Nevfel Cumart

Rezensionen

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Als Schüler begann Nevfel Cumart in Stade erste journalistische Texte zu verfassen, die in der örtlichen Presse veröffentlicht wurden. Als Schwerpunkt dieser Arbeiten kristallisierten sich im Laufe der Jahre Literaturkritiken heraus. Seit 1992 leitet Nevfel Cumart die Literaturredaktion des Bamberger Stadtmagazins »Fränkische Nacht« und ist freier Mitarbeiter im Feuilleton der Zeitungen »Fränkischer Tag« und »Nürnberger Nachrichten«. Hier können Sie einige seiner Rezensionen aus der letzten Zeit lesen:


Najem Wali: »Bagdad … Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning«

In der Düsternis der Frontnacht

Najem Wali erzählt über die Hölle des Kriegs

Der Iraker Najem Wali, der 1956 in Basra geboren wurde und 1980 bei Ausbruch des iranisch-irakischen Kriegs nach Deutschland floh, ist wahrhaftig kein bequemer Autor. Er wollte auch nie einer sein, denn sonst hätte er für seine Bücher andere Stoffe ausgesucht. In seinem Roman »Die Reise nach Tell al-Lahm« (2004) geht es um Militär, Politik und Jungfräulichkeit und die Rolle der irakischen Offiziere, die im Krieg im Irak viele unschuldige Mädchen verführt, gar vergewaltigt haben. Das kritische Buch wurde im Irak und in einigen anderen islamischen Ländern verboten, avancierte dennoch unter der Hand zu einem Kultbuch.

Für ebenso viel Aufsehen sorgte auch Walis Roman »Reise in das Herz des Feindes. Ein Iraker in Israel« (2009), das allein durch seine Existenz ein Novum in der Geschichte der arabischen Literatur ist. Allein schon die Tatsache, dass man als Araber Israel bereist, gilt in vielen islamischen Ländern als Verrat. Wenn dieser Araber sich auch noch aufmacht, die israelische Gesellschaft von innen zu behandeln und Verbindendes zwischen Juden und Arabern aufzuzeigen, dann ist ihm die Abneigung vieler Muslime sicher. Und auch der orthodoxen Religiösen im Zentralrat der Juden.

Auch mit seinem jüngsten Roman »Bagdad … Marlboro« wird Najem Wali sich in seiner alten Heimat Irak nicht viele Freunde machen. Im amerikanischen Lager allerdings auch nicht. Denn er erweist sich erneut als Chronist schrecklicher Verbrechen. Dabei belässt er es nicht beim dritten Golfkrieg, den die Amerikaner mit manipulierten Beweisen gegen Saddam Hussein angezettelt haben. Er schlägt einen weiten Bogen, der vom iranisch-irakischen Krieg Anfang der 1980er Jahre und den Kämpfen in Kurdistan bis zum amerikanischen Einmarsch in Bagdad und dem viel schlimmeren Nachkrieg. Die wichtigste Station der Handlung ist aber der Kuweit-Krieg von 1991, dem Wali erzählerisch viel Platz einräumt.

Mit kurzen Worten ist der überwältigende Erzählstrom nicht wiederzugeben. Der Hauptstrang aber ist klar: Die zwei Haupt-Protagonisten, ein irakischer Soldat und ein US-Soldat kämpfen zwar an verschiedenen Fronten während des Kuweit-Kriegs. Doch beide, den irakischen Dichter Salmân Mâdi und den Afroamerikaner Daniel Brooks, verbindet nicht nur die Liebe zum Poeten Walt Whitman sondern auch die Tatsache, dass jeder auf seine Art, an der Tötung vieler anderer Soldaten verwickelt ist. Obwohl beide den Frieden, die Wüste und auch den Humor lieben. Besonders tragisch die Situation von Daniel Brooks: Jahrelang ist es im gelungen in Versorgungsdepots zu dienen und dem Waffeneinsatz auszuweichen, bis ein Vorgesetzter ihn zwang, mit einem Bulldozer halbnackte irakische Soldaten in großen Gruben bei lebendigem Leibe zu begraben.

Von den Hintergründen dieser und anderer Greueltaten erfährt der namenlose Erzähler des Romans, ein manisch-depressiver Tierarzt, auf abenteuerliche Art und Weise durch einen ehemaligen Soldaten und einem Brief aus Kriegszeiten. Er gerät ins das Visier rivalisierender Militärgruppen, ist sich schließlich seines Lebens in Bagdad nicht mehr sicher und flieht nach einer Odyssee im Untergrund mit gefälschtem Pass in die USA!

Dort lässt Wali auch seinen fulminanten Roman enden: Im amerikanischen Garnisonsstädtchen Fort Meade, wo der Prozess gegen den »Whistleblower« Bradley Manning im Jahre 2013 verhandelt wird, dem der namenlose Erzähler beiwohnt. Manning hatte unzählige Dokumente über Verbrechen der US-Streitkräfte an Wikileaks weitergeleitet und wurde dafür zu 35 Jahre Haft verurteilt. Dass Manning die Wahrheit ans Licht bringen und mit diesem Akt beweisen wollte, dass man der Hölle des Kriegs Widerstand entgegen bringen kann, lässt den namenlosen Erzähler hoffungsvoll stimmen.

»Bagdad … Marlboro« ist keine leichte Lektüre, strukturell wie auch inhaltlich nicht. Die vielen Nebenschauplätze, die Zeitsprünge und die kaum von Absätzen unterbrochene, verschachtelte Erzählweise verlangen vom Leser viel ab. Ebenso wie der Inhalt, der von menschlichen Abgründen, Gewalt und Willkürherrschaft ebenso handelt wie von kriegerischen Grausamkeiten und so manchen Leser sicher in eine deprimierte Stimmung der Sprachlosigkeit versetzt. Aber die Lektüre lohnt sich allemal, denn Wali bringt das Kunststück fertig, eben diese Sprachlosigkeit durch das Erzählen zu überwinden und uns einen packenden Kriegsroman zu bescheren.

– Nevfel Cumart

Najem Wali: Bagdad … Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning. Carl Hanser Verlag, München 2014. 350 Seiten.

 


Nadifa Mohamed: »Garten der verlorenen Seelen«

Die Sonne in einem Brunnen löschen

Eine packende Überlebensgeschichte dreier Frauen in Somalia

Was soll man über Somalia schreiben? Unbeschreibliche Armut, Naturkatastrophen, anhaltende Bürgerkriege, schiere Not und spektakuläre Piratenüberfälle vor der Küste kommen einem in den Sinn. Viel Gutes gibt es nicht zu berichten über dieses Land am Horn von Afrika, das seit seiner Unabhängigkeit 1960 mehr oder weniger zersplittert ist, seit mehr als 20 Jahren keine funktionierende Zentralregierung aufweist und nur in einer Kategorie weltweit den ersten Platz belegt: Korruption. Sicher scheint in Somalia gar nichts zu sein. Auch die Einwohnerzahl nicht, die niemandem bekannt ist und irgendwo zwischen sieben und zwölf Millionen Menschen schwankt. Diesen »gescheiterten Staat« als Schauplatz eines Romans zu wählen, ist mehr als gewagt.

Nicht für die junge Autorin Nadifa Mohamed, die 1981 in Hargeisa im Norden Somalias geboren wurde. Mit fünf Jahren floh sie mit ihren Eltern vor dem drohenden Bürgerkrieg ins britische Exil nach London und studierte in Oxford Geschichte und Politik. »Der Garten der verlorenen Seelen« ist nicht das erste Buch, in dem sie ihr Geburtsland als Setting verwendet. Bereits mit ihrem Erstlingsroman »Black Mamba Boy« (2010) tauchte sie literarisch in die Geschichte Somalias ein. Und in die eigene Familiengeschichte. Denn in dem Debüt, das Mohamed viel Lob und den Betty Trask Award bescherte, erzählt sie die Kindheit ihres Vaters in den 1930er Jahren zur Zeit von Mussolinis Herrschaft in Somalia.

Wurde »Black Mamba Boy« von der Literaturkritik zumeist als eine odysseehafte Vater-Sohn-Geschichte gewürdigt, so könnte man Mohameds neuen Roman als eine Mutter-Tochter-Geschichte bezeichnen. Allerdings in dreifacher Hinsicht. Denn Mohamed erzählt die Überlebensgeschichte dreier Frauen in dem von Bürgerkrieg zerrütteten Land in den Jahren 1987 und 1988. Diese sind in der Reihenfolge ihres Auftretens: Die ältere Witwe Kawsar, deren Tochter Selbstmord begeht, die junge Soldatin Filsan, deren Muter sie und den Vater verlassen hat und das neunjährige Waisenmädchen Deqo, das seine Mutter gar nicht kennt.

Mohamed führt diese drei unterschiedlichen Figuren aus drei Generationen geschickt am Anfang des Buches zusammen: In Hargeisa wird kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs eine Jubelfeier für den Diktator Siad Barre »inszeniert«. Auf dieser Feier soll die kleine Deqo mit anderen Kindern zusammen tanzen, doch vor Aufregung ist sie wie gelähmt. Von den Frauen der Guddi-Ordnungsmiliz wird die Kleine zur Strafe für das Versagen verprügelt. Die Witwe Kawsar, die mit ihren Freundinnen dazu verdonnert wurde, die Zuschauer-Kulisse zu bilden, stellt sich schützend vor das Kind. Kawsar wird verhaftet und im Polizeigebäude von der Soldatin Filsan so brutal geschlagen, dass ihre Hüfte bricht. Nach diesem von Gewalt geprägten ersten Teil trennt das Leben die drei Protagonistinnen wieder.

Kawsar ist an das Bett gefesselt, wird von der störrischen Dienstmagd Nurto mehr recht als schlecht betreut, lebt in ihren Erinnerungen und weigert sich, mit den Nachbarn die Flucht zu ergreifen. Die ehrgeizige Filsan, die unter einem strengen Offiziersvater gelitten hatte und von der sozialistischen Idee der Militärjunta überzeugt ist, muss erkennen, dass sie unter den bestehenden Machtverhältnissen beim Militär zumeist als Lustobjekt betrachtet wird. Als ihr Soldatenfreund bei einer Razzia umgebracht wird, desertiert sie kurzerhand. Und Deqo will nicht ins Flüchtlingslager zurück. Durch den beherzten Einsatz von Kawsar gelingt ihr die Flucht aus dem Polizeigebäude. Sie lebt künftig auf der Straße, schläft in einer rostigen Tonne in der Nacht und findet für kurze Zeit Unterschlupf bei der Prostituierten Nasra, bis sie wieder um ihr Leben kämpfen muss. Das Schicksal führt die drei Frauen auf Umwegen wieder zusammen und lässt sie als Trio eine Flucht antreten.

Nadifa Mohamed gehört zu den 20 besten jungen britischen Erzählern, die jährlich von der hoch angesehenen Literaturzeitschrift »Granta« gekürt werden. »Der Garten der verlorenen Seelen« belegt eindrucksvoll, warum sie zu den besten ihrer Generation gehört. Sie hat ein scharfes Auge für Details und zeigt viel Empathie für ihre Figuren, deren Innenleben mit Respekt ausleuchtet. Und was überaus bemerkenswert ist: Mohamed gelingt das Kunststück, das dramatische und von Gewalt und Terror geprägte Alltagsleben der Somalier in eine zugleich betörende wie verstörende poetische Sprache zu verwandeln. Eines von unzähligen Beispielen: »die Soldaten werden die Straße in eine Wüste zurückverwandeln, die Sterne ausknipsen, die Hunde erschießen und die Sonne in einem Brunnen löschen.«

Versierte Leser werden vielleicht mit dem versöhnlichen Happy-End hadern. Warum in Gottes Namen, könnten sie sich fragen, riskiert diese kluge Erzählerin die 260 fesselnden Seiten voller realistischer und poetischer Prosa auf den letzten zehn Seiten? Eine Antwort wird sicher nur Mohamed selbst wissen. Außenstehende können nur spekulieren. Vielleicht verlangte es die poetische Gerechtigkeit, dass diese drei Frauen auf diese Weise überleben. Vielleicht hat Mohamed auch an eine Verfilmung gedacht, in dem die dramatische Abschlussszene durch den Wüstensand gut zur Geltung kommt. Egal. Das Ende kann den Lesegenuss dieses Romans nicht trüben!

– Nevfel Cumart

Nadifa Mohamed: Der Garten der verlorenen Seelen. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2014. 270 Seiten.

 


Elif Shafak: »Ehre«

Wenn Tradition zur Tragödie führt

Im neuen Roman der bemerkenswerten türkischen Autorin geht es um Ehrenmord

Elif Shafak ist eine der meistgelesenen türkischen Autorinnen. Ihre Bücher avancieren regelmäßig innerhalb kurzer Zeit zu Bestsellern in der Türkei. Das ist mehr als bemerkenswert und wirft ein positives Bild auf die türkische Leserschaft, die sich in den letzten fünfzehn Jahren immens gewandelt und intellektuell geöffnet hat. Denn Elif Shafak ist gleichzeitig auch eine sehr unbequeme Autorin, die stets das Seichtwasser des literarischen Mainstreams gemieden und ihre Themen überwiegend in der No-go-Zone der Selbstwahrnehmung der türkischen Gesellschaft gesucht und gefunden hat.

Das beste Beispiel hierfür ist ihr Roman »Der Bastard von Istanbul«, in dem sie nicht nur zuhauf die von den türkischen Modernisten diskreditierten »osmanischen« Wörter und Bilder benutzt, sondern auch die Vertreibung und die Massaker an den Armeniern thematisiert. Deswegen wurde sie in ihrer Heimat 2006 wegen »Herabwürdigung des Türkentums« angeklagt und musste sich langwierig vor Gericht verantworten. Erst 2010 wurde sie frei gesprochen.

Hinzu kommt zum Leidwesen der türkischen Nationalisten, dass Elif Shafak ihre Romane seit Jahren in Englisch verfasst. Deren Attacken folgen einer simplen Schlussfolgerung: Wer seine Sprache verrät, verrät auch sein Land – und damit die Nation.

Doch so einfach ist es nicht. Wer Elif Shafaks Biographie kennt, wird die Hinwendung zur Weltsprache Englisch nachvollziehen können, denn die 1971 geborene Autorin ist nicht nur im Geiste eine Kosmopolitin. In Strassburg geboren und in Madrid aufgewachsen, studierte und promovierte sie in der Türkei, um später nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten an Universitäten in Massachusetts und Michigan für einige Jahre in Tuzcon an der University of Arizona Genderstudies und Interkulturalität zu unterrichten. Zurzeit ist sie »Senior Researcher in Creative Writing« an der britischen Kingston University und pendelt zwischen London und Istanbul.

Auch ihr neuer Roman »Ehre« wird in beiden Lagern der Shafak-Fans und Gegner für Furore sorgen. Der Titel ist gleich Thema, genauer gesagt: Es geht um Ehrenmord. In den Händen einer zweitklassigen Autorin hätte das Thema »Ehre« leicht zu einem linear erzählten Literatur-Fiasko mit erhobenem Zeigefinder werden können. Elif Shafak hingegen liefert auf über 500 Seiten ein vielschichtiges, komplex strukturiertes Familienepos, das sich von einem Dorf an den Ufern des Euphrat im Jahre 1953 bis hin zum Londoner East End des Jahres 1992 und über drei Generationen hinzieht.

Im Mittelpunkt stehen die beiden Zwillingsschwestern Pembe und Jamila, die in einem kleinen kurdischen Dorf auf die Welt kommen. So innig vereint sie seelisch auch sind, ihre Lebenswege führen sie dennoch auseinander. Jamila arbeitet später in einem unwegsamen Gebiet der Osttürkei als Hebamme, während Pembe mit ihrem Mann Adem und den drei Kindern Yunus, Esma und Iskender auf den Spuren des Brotes nach England zieht. Mit dem Broterwerb des Familienoberhauptes steht es aber nicht zum Guten: Adem verliert seine Arbeit, verfällt der Spielsucht, verliebt sich in die russische Tänzerin Roxana und verlässt die Familie. Iskender, von der Mutter stets als »Sultan« bezeichnet, übernimmt als ältester Sohn die Führung der Familie.

Gleichzeitig avanciert Iskender zum »Bewacher« der Familienehre. Diese steht und fällt mit dem Ruf der Frau in der Familie. Als Pembe zufällig den Koch Elias kennen lernt, mit ihm heimliche Augenblicke der Wertschätzung und Zuneigung erlebt, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Denn was für den Mann in punkto außerehelicher Affäre allseits geduldet wird, kommt bei der Frau einer Sünde gleich. Iskender ist es auch, der den Ruf der Familie mit dem letzten aller Mittel zu retten versucht und dafür vierzehn Jahre im Gefängnis verbringt.

Elif Shafak zeigt viel Empathie und nimmt sich viel Zeit für ihre Figuren, gewährt den Lesern tiefe Einblicke in deren Seelenleben. Sie zeigt eindringlich auf, wie sehr althergebrachte Traditionen das Leben und Denken der Menschen auch in der Migration prägen und welchen Einfluss von der Religion geprägte kulturelle Werte auf das Familienleben haben. Ohne moralisches Pathos legt sie mit der Kraft ihrer Literatur dar, mit welcher Doppelmoral der überholte Ehrbegriff das Männer- und Frauenbild unterschiedlich prägt und mit welcher Wucht die Übertretung des Moralkodexes geahndet werden kann.

Elif Shafak verlangt viel von ihren Lesern! Die vielen Figuren mit ihren jeweiligen Handlungs- und Entwicklungssträngen, der ständige Perspektivenwechsel, die unerwarteten Zeitsprünge und Flashbacks sowie ein regelrechter Chor an unterschiedlichen Erzählerstimmen fordern von den Lesern eine hohe Konzentration. Belohnt werden sie mit Literatur auf sehr hohem Niveau, mit einem einfallsreichen Plot und einer überaus poetischen Sprache, die mit einer schier unerschöpflichen Zahl von Bildern aufwartet. Belohnt werden die Leser auch mit einem Ende, das einerseits zwar absehbar in die Tragödie mündet, andererseits auch eine sehr überraschende Volte enthält, die, wenn es überhaupt angesichts des Todes möglich ist, fast zu versöhnen vermag.

Bleibt zum Abschluss noch, dem Verlag ein Lob auszusprechen: Es wäre sicher ein leichtes gewesen, um des Effektes willen den Buchumschlag mit einer traurig dreinblickenden Kopftuch-Frau zu zieren, wie es im englischen Original der Fall ist. Stattdessen findet sich auf dem schlichten grünen Cover lediglich das Wort »Ehre« in goldenen Lettern. Gut so.

– Nevfel Cumart

Elif Shafak: Ehre. Roman. Kein & Aber Verlag; Zürich, 2014. 528 Seiten.

 


Mohsin Hamid: »So wirst du stinkreich im boomenden Asien«

Vom Underdog zum Millionär

Eine ironische und doch einfühlsame Aufsteiger-Geschichte in Ratgeberform

Pakistan! Wer denkt da nicht zuerst an politische und militärische Krisen, die das Land seit Jahren in Atem halten. Eine Atommacht mit 173 Millionen Einwohnern und einer instabilen Regierung, ständig im Clinch mit dem Nachbarn Indien, ständig bedroht von der Machtübernahme der Islamisten, ständig am Rande des Chaos, ständig mit negativen Schlagzeilen in den westlichen Medien präsent.

Wenige nehmen hierzulande wahr, dass inmitten dieses Chaos großartige Literatur pakistanischer Autoren entsteht. Und das schon seit Jahren. Bücher von Jamal Ahmad (»Der Weg des Falken«) und Mohammed Hanif (»Eine Kiste explodierender Mangos«) wurden schon in der NN vorgestellt. Nun noch ein Autor, dessen neuer, bislang dritter Roman erneut für Furore sorgt und in über 30 Sprachen übersetzt wird: Mohsin Hamid.

Der 1971 in Lahore geborene Hamid ist alles andere als ein »Neuling« in literarischen Kreisen. Im Gegenteil: Er trug maßgeblich dazu bei, dass die aktuelle pakistanische Literatur im englischsprachigen Raum sich etablieren und ein wenig aus dem Schatten der literarischen Übermacht Indiens mit solchen Altvorderen wie Salman Rushdie, Vikram Seth oder Arundhati Roy treten konnte.

Hamids Lebensweg ist wahrhaftig nicht typisch für pakistanische Verhältnisse. Er kehrte für viele Jahre seinem gebeutelten Heimatland den Rücken und begab sich an Elite-Universitäten. Er studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton, unter anderem bei Joyce Carol Oates und Toni Morrison. Er lebte und arbeitete einige Jahre für McKinsey in New York, später in London und entschied sich 2009, mit seiner Familie wieder nach Lahore zurückzukehren.

Bereits sein zweiter Roman »Der Fundamentalist, der keiner sein wollte« katapultierte ihn 2007 in die Bestseller-Listen in der englischsprachigen Welt und bescherte ihm einige Auszeichnungen. Die als unendlich langer Monolog verfasste Geschichte des pakistanischen Princeton-Absolventen Changez, dessen Karriere-Pläne durch die Anschläge auf das World Trade Center auch in Schutt und Asche gehen, enthielt autobiographische Einschläge und wurde von Mira Nair erfolgreich verfilmt.

In »So wirst du stinkreich im boomenden Asien« beschreibt Hamid den Aufstieg eines namenlosen, von Gelbsucht gezeichneten Dorfjungen aus ärmsten Verhältnissen zum Millionär und Unternehmer, der mit dem knappen und kostbaren Gut Trinkwasser immer größere Geschäfte macht. Doch Hamid liefert keine klassische Aufsteigergeschichte im klassischen formal-ästhetischen Gewand eines Romans. Er benutzt das Genre der Ratgeberliteratur – und konterkariert es wunderbar.

Sein Protagonist, der auch der Leser sein könnte, wird stets mit einem »Du« angesprochen und auf die Reise zum Erfolg geschickt. Die Stationen sind wie Appelle in den Kapitelüberschriften vorgezeichnet und klingen wie »Zieh in die Stadt«, »Meide Idealisten«, »Scheue nicht vor Gewalt zurück«, »Jongliere mit Schulden« oder »Denk an ein Ausstiegsszenario«. Das lässt sich in der Rezension auch kürzer fassen: Der Protagonist erlebt Landflucht, Mafiagebahren, Korruption, Krankheit, Kaltblütigkeit, Verrat – und Liebe. Die findet er schließlich als alter Mann.

Hamids Roman ist amüsant und hintergründig, denn hinter der Fassade des Erfolgs verbirgt sich eine Armada ungelöster gesellschaftlicher Probleme. Der Roman ist zudem hinterhältig und ehrlich zugleich, denn gerade weil sich so viele Selfmade-Unternehmer mit ihrer Alles-ist-möglich-Mentalität und einer großen Portion Korruption im Gepäck auf den Weg machen, verfestigen sich die angeprangerten Missstände chronisch, nicht nur in Pakistan! Bleibt noch festzuhalten, dass uns Hamid in seinem satirischen Spiel einen Strauß voller überraschender Pointen sowie jenseits des persiflierenden Ratgeberjargons eine zutiefst bewegende Liebesgeschichte liefert. Ein literarisches Kunststück. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Roman verfilmt wird. Freuen wir uns darauf!

– Nevfel Cumart

Mohsin Hamid: So wirst du stinkreich im boomenden Asien. Roman. Dumont Verlag, Köln 2013. 224 Seiten.

 


Mathias Énard: »Straße der Diebe«

Von der Ungerechtigkeit Gottes

Ein arabischer Abenteuer- und Bildungsroman der besonderen Art

Wenn es nach Preisen und Auszeichnungen geht, so hat der Franzose Mathias Énard einiges vorzuweisen. Alleine schon für seinen fulminante Roman »Zone« (2008) erhielt er in Frankreiche den »Prix Décembre« und den »Prix du Livre Inter« und in Deutschland den »Candide Preis 2008«. Ungewöhnlich war dieses knapp 600 Seiten starke Buch allemal: In 21 Kapitel bietet Enard einen endlos langen Gedankenstrom, der ohne einen einzigen Punkt auskommt und die Leser wie ein Sog mit sich zieht. Dabei seziert Enard das Leben und Sterben rund um das Mittelmeer von der Antike bis zum heutigen Tag. Selbst zurückhaltende Kritiker sprachen von einem »literarischen Wunder«. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Énards neuen Roman »Straße der Diebe«. Um es vorab zu sagen: An das Mammutwerk »Zone« kann der neue Roman nicht reichen. Aber das wäre ja auch ein neues Wunder.

Der 1971 geborene Mathias Énard studierte Arabisch und Persisch und verbrachte viele Jahre in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens. Seit drei Jahren lehrt er als Arabisch-Dozent an der Universität in Barcelona Mit dieser Biographie fand er auch sicher den Stoff für seinen neuen Roman. Er präsentiert die Geschichte des jungen Marokkaners Lakhdar vor dem aktuellen Hintergrund der Revolution in Ägypten und des Bürgerkriegs in Syrien und wählt als zweites Setting Barcelona im krisengebeutelten Spanien.

Énards Protagonist stammt aus der Banlieue von Tanger und macht sich trotz der Armut nicht so viele Gedanken um seine Zukunft, solange er mit seinem besten Freund Abbas am »Grand Socco nach Touristinnen schielen« kann. Aus dem jugendlichen Rausch wird Verzweifelung, als er eines Tages beim heimlichen Liebesspiel mit seiner Kusine vom Vater überrascht und in Schande von der Familie verstoßen wird.

Lakhdar lebt zwei Jahre auf der Straße, bettelt, prostituiert sich, landet ganz unten und gerät irgendwann über seinen Jugendfreund Bassam an die »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«, die ihm Unterstützung und Unterschlupf gewährt. Um welchen Preis ihm diese Hilfe zuteil wird, kann oder will er vielleicht nicht erahnen. Er betreut die Bibliothek voller islamischer Erbauungsliteratur, liest Krimis westlicher Autoren in den Nächten und mischt sich in die gewalttätigen Aktionen der Gruppe unter der Führung des fanatischen Predigers Cheikh Nouredine nicht ein. Stattdessen verliebt er sich in die spanische Studentin Judit.

Als nach einem Terroranschlag das Haus der Gruppe in Brand gesteckt wird, beginnt das Leben auf der Straße und die Reise ins Ungewisse aufs Neue für Lakhdar. Auf mehr oder weniger abenteuerlichen Wegen gelangt er schließlich mit Hilfe eines alten Seemanns aufs europäische Festland und macht sich auf nach Barcelona. Das Leben im Untergrund kennt er. Neu ist, dass er in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt ein illegales Dasein führt. Doch muss Lakhdar in der berüchtigten Straße der Diebe nicht nur die Polizei fürchten, sondern auch die ehemaligen Mitglieder der »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«. Denn eines Tages taucht sein Jugendfreund Bassam auf, der die vergangenen Monate im Untergrund gelebt hat. Als kurz darauf auch Cheikh Nouredine vor Ort ist, sprechen viele Indizien dafür, dass ein großes Attentat geplant ist. Lakhdar ist zwar geschwächt und unglücklich, weil seine Freundin Judit an einem Tumor erkrankt ist, doch stellt er sich auf seine Art und Weise den Islamisten in den Weg. Und zieht die Konsequenzen daraus.

Énard hat sich ein wenig übernommen in dem Versuch, einen Bildungs- und Abenteuerroman gleichzeitig zu liefern, dabei noch die aktuellen Krisen in Ägypten, Tunesien und Syrien auf Umwegen zu beleuchten und die Auswirkungen der europäischen Wirtschaftskrise exemplarisch an seinem Protagonisten aufzuzeigen. Und gelegentlich wird man das Gefühl nicht los, dass der Figur Lakhdars zu viel aufgebürdet wird. Sei es drum! »Straße der Diebe« ist immer noch eine gut konstruierte Mischung aus Roadmovie und Thriller und allemal lesenswert.

– Nevfel Cumart

Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman. Hanser Verlag, Berlin, 2013. 345 Seiten.

 


Amity Gaige: »Schroders Schweigen«

Die Liebe eines Vaters

Amity Gaige bietet mehr als eine Scheidungsgeschichte

»Niemanden kümmert es, ob du glücklich bist oder nicht, wozu also auf Erlaubnis warten?« Das denkt sich der ehemalige Immobilenmakler Eric Kennedy und bricht mit seiner sechsjährigen Tochter Meadow zu einem »Abenteuerausflug« auf anstatt sie nach der vereinbarten Besuchszeit zu seiner Ex-Frau Laura zurückzubringen. Keine Frage: Es ist eine spontane Idee. Eine böse Handlung kann man Eric beim besten Willen nicht unterstellen. Es ist die Liebe zu seiner kleinen Tochter, die ihn antreibt. Und Ohnmacht. Und Verzweifelung. Und Ungerechtigkeit, die er zutiefst empfindet, nachdem er im Schlepptau des unfähigen Rechtsanwalts Thron den Sorgerechtstreit mit seiner Ex-Frau Laura verloren hat.

Was folgt, ist Schritt für Schritt ein Abgleiten in ein katastrophales Roadmovie, das schließlich – rechtlich gesehen – in eine Kindesentführung mündet und Eric hinter Gitter bringt. Eric klaut in der Nähe von Albany den Mini eines einer Kunden, reist damit ohne einen Plan oder ein bestimmtes Ziel gen Norden. Er schreckt nicht davor zurück, seine asthmakranke Tochter im winzigen Kofferraum nach Kanada schmuggeln zu wollen. Ebenso wenig hält er sie davon ab, mit »Klamotten« im kalten Lake George zu schwimmen. Und niemand hindert ihn daran, sie mitzunehmen in eine verrauchte Bar voller Betrunkener, in der er seinen Frust lindern will. Als ob das nicht reicht, verbringt der nach körperlicher Liebe hungernde Eric eine Nacht mit der Nachbarin in einer gemieteten Hütte, während Meadow vor lauter Angst nicht schlafen kann. Verantwortung für ein Kind sieht sicher anders aus. Dass Eric den lebenswichtigen Inhalator seiner Tochter vergessen hat, ist ein weiterer Schritt in die Katastrophe, die die kleine Meadow nach einem Anfall – Gott sei Dank noch rechtzeitig – in die Notaufnahme eines Bostoner Krankenhauses und den unfähigen Vater anschließend ins Gefängnis führt.

Dort blickt Eric zurück auf sein Leben und schreibt auf Anraten seines Verteidigers nach 21 Tagen Schweigen einen Bericht, um die Jury im anstehenden Gerichtsverfahren milde zu stimmen. Heraus kommt die Geschichte eines unglücklichen Jungen namens Eric Schroder, der als Kind 1975 mit dem Vater aus der DDR floh und dabei seine Mutter verlor. Aus einer Eingebung heraus gibt er sich den erlogenen Namen »Kennedy«, um als 14-jähriger den ersehnten Ferienplatz am Ossipee Lake zu bekommen, aber auch um der Diskriminierung als junger Immigrant zu entgehen. Schließlich gewöhnt sich Eric an diesen »letztlich desaströsen Betrug, die fingierte Identität« und an die Leichtigkeit des Flunkerns, die er auch gegenüber seiner angeheirateten Familie beibehält. All das und noch vieles mehr aus vierzig Jahren Erinnerung erfahren die Leser ungefiltert aus dem Mund des reumütigen Hochstaplers aus Not.

»Natürlich gibt es nur eine Sache, die uns wahrhaftig verstört, und das ist das Verschwinden der Liebe«. Das könnte einer der wichtigsten Sätze aus Erics »Rechtfertigungsschrift« sein. Und gleichzeitig ein glaubwürdiger Hinweis darauf, dass die US-Amerikanerin Amity Gaige den Lesern mit ihrem dritten Roman mehr als nur ein Roadmovie mit unglücklichem Ende liefern will. Weit über die Fallstricke in einer Scheidungsgeschichte hinaus geht sie ohne Larmoyanz und aufdringliche Bilder auch der Frage nach, was es heißen kann, von den kulturellen Wurzeln abgekappt zu werden.

Dabei präsentiert uns Amity Gaige einen Protagonisten, der zwar ehrlich, aber mit Sicherheit auch ein unzuverlässiger Erzähler ist. Einen vermeintlich liebevollen Vater, den man eigentlich nicht mögen kann nach all dem, was er verbrochen hat. Und doch gewinnt Eric die Sympathien der Leser bis zur letzten Seite. Am Ende bleibt für diese literarische Meisterleistung im Erzählverfahren der Apologie nur ein Wort: Kunststück!

– Nevfel Cumart

Amity Gaige: Schroders Schweigen. Roman. Hanser Verlag; München. 315 Seiten.

 


Zülfü Livaneli: »Serenade für Nadja«

Ein schmerzlicher Blick in die Vergangenheit

Ein fesselnder Roman über ein dunkles Kapitel türkischer Geschichte

Zülfü Livaneli ist hierzulande weitaus weniger bekannt als sein Landsmann Orhan Pamuk. Viel zu unrecht, zumal der Nobelpreisträger selbst feststellt: »Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.« Man kann diese Einschätzung auch anders ausdrücken: Livaneli ist eine schillernde Figur in der türkischen Kulturlandschaft. Die Betonung liegt auf »Kultur«, denn der Mann ist vielseitig. Als Komponist und Liedermacher hat er mit seinen Alben und Filmmusiken international Renommee und Preise erworben. Als Regisseur wurde er mit seinen Filmen auf diversen Filmfestivals gefeiert. Mit den gemeinsamen Musikprojekten und Konzerten mit den griechischen Stars Maria Farantouri und Mikis Theodorakis hat er maßgeblich zur Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen beigetragen. Mit seinen Büchern erobert er regelmäßig die Bestsellerlisten in seiner Heimat. Seit 1995 ist er UNESCO-Botschafter und bis 2007 saß er als Abgeordneter der traditionsreichen »Republikanischen Volkspartei« im türkischen Parlament.

Keine Frage, Livaneli genießt durch die Bank weg hohes Ansehen in der Türkei. Doch das war nicht immer so. Livaneli hat auch andere Zeiten erlebt. Zeiten, in denen seine Musik verboten war. Zeiten, in denen er seines Lebens nicht mehr sicher sein konnte und für einige Jahre ins Exil nach Schweden gehen musste. Viele seiner nationalistisch gesinnten Landsleute würden ihn gerne auch heute ins Exil schicken! Denn Livaneli hat sich – wieder einmal – nicht um gesellschaftliche Tabus geschert und für seinen neuen Roman ein Thema ausgesucht, das für Furore sorgt. Eine Tragödie aus der jüngeren türkischen Vergangenheit, an der auch Deutschland, England und Russland beteiligt waren. Dabei siedelt Livaneli die Erzählung in der Gegenwart an und taucht immer wieder in die unaufgearbeitete Vergangenheit ein.

In der Gegenwart stehen zwei Figuren im Mittelpunkt des Romans: Zum einen die junge Maya, alleinerziehende Mutter eines 14-jährigen Sohnes und als Angestellte der Universität Istanbul zuständig für die Betreuung ausländischer Gäste. Zum anderen der aus den USA zu einem Vortrag angereiste Professor Maximilian Wagner, der sich in die Obhut von Maya begibt. Recht schnell bemerkt Maya, dass den 87-jährigen Mann mit deutschen Wurzeln eine tiefe Traurigkeit überkommt, wenn sie ihn an bestimmte Orte in Istanbul führt. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl der türkische als auch der russische Geheimdienst die beiden auf Schritt und Tritt verfolgen. Der betagte Professor hütet ein Geheimnis, das er der jungen Frau in einer langen Nacht erzählt.

Als politischer Flüchtling kam Wagner einst in die Türkei, suchte Zuflucht vor Hitlers Schergen am Bosporus, so wie viele andere Deutsche auch. Doch seiner Frau Nadja gelang die gemeinsame Flucht nicht. Mit Hilfe engagierter Landsleute fand Wagner einen kostspieligen Weg, um sie nachkommen zu lassen: an Bord des alten Schiffes »Struma«. Mit 761 weiteren jüdischen Flüchtlingen ging Nadja im rumänischen Constanta an Bord mit dem Ziel Palästina. Aber es kam anders. Das altersschwache Schiff hatte einen Motorschaden, wurde am Bosporos vor Anker gelegt. An eine Weiterreise war nicht zu denken. Die Briten verweigerten die Einreise in Palästina und zwangen die Türken, den Landgang zu verbieten. Über zwei qualvolle Monate harrten die Menschen auf dem völlig überladenen Schiff im kalten Istanbuler Winter aus. Später schließlich, am 24. Februar 1942, sank die »Struma« an der Mündung des Bosporos, wurde nachweislich von einem russischen U-Boot torpediert. Nur ein Mensch überlebte. Und die ganze Zeit war Wagner in der Nähe des Schiffes, konnte seine geliebte Nadja sogar sehen, aber nicht zu ihr gelangen.

Livaneli hat für seine Geschichte sehr viel recherchiert. Sein Verdienst ist es, neben der Struma-Tragödie auch einen Einblick in die Welt der deutsch-jüdischen Emigranten, der vielen Professoren, Politiker und Künstler zu geben, die bis zum Ende des Nationalsozialismus im sicheren türkischen Exil lebten. Unter ihnen befanden sich auch der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, der Jurist Ernst Hirsch oder der Bildhauer Rudolf Belling.

Gleichzeitig führt Livaneli seinen Lesern vor Augen, dass auch viele seiner Landsleute Flucht und Entwurzelung in ihrer Familiengeschichte haben. Exemplarisch hierfür steht Maya, deren eine armenische Großmutter nach dem Genozid die Herkunft verleugnen musste und deren zweite Großmutter als Krimtatarin Verfolgung und Tod als einzige aus der Familie überlebte.

Livaneli kann höchstens ein Vorwurf gemacht werden: Er packt sehr viel in die Geschichte hinein und hat gelegentlich einen überaus aufklärerischen Gestus, als ob er seinen Figuren nicht genug Vertrauen schenken würde. Diese kleine Schwäche ist ihm aber gerne zu verzeihen, denn schließlich hat er uns ein bewegendes, über weite Strecken spannendes Stück Literatur geschenkt und eine bislang totgeschwiegene, dunkle Episode der türkischen Vergangenheit beleuchtet.

– Nevfel Cumart

Zülfü Livaneli: Serenade für Nadja. Roman. Klett Cotta Verlag; Stuttgart. 336 Seiten.

 


Hiromi Kawakami: »Bis nächstes Jahr im Frühling«

Von der Vergänglichkeit der Liebe

Die Meisterin des Minimalismus und der zarten Andeutung schreibt

Als die 1958 geborene Hiromi Kawakami die literarische Bühne Japans betrat, war sicher nicht abzusehen, dass ihr eines Tages solch ein Erfolg beschieden werden würde. Mehr noch: Die Literaturkritik nahm schlichtweg keine nennenswerte Notiz von ihr. Das war auch verständlich, denn sie veröffentlichte 1980 unter dem Pseudonym Yamada Hiromi ihre erste Science-Fiction-Erzählung, der noch weitere folgten. Dieser erste Anlauf verlief im Sand. Der zweite hingegen verlief wie aus dem Wunschbuch angehender Autorinnen:

Nach Jahren der Schreibpause, in der sie als Biologin arbeitete, erschien 1994 die erste Sammlung literarischer Erzählungen, die vielfach beachtet wurde. Zwei Jahre später der erste Roman, der mit einem Preis für vielversprechende Jungautoren ausgezeichnet wurde. Und bereits für ihren dritten Roman »Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß«, der in Deutschland acht Jahre später (2008) erschien, erhielt sie den »Tanikazi-Prize«, den wohl wichtigsten Literaturpreis des Landes.

In diesem Roman lässt Kawakami auf eine sehr behutsame Art und Weise eine Liebesbeziehung zwischen einer jungen Frau und ihrem fast doppelt so alten ehemaligen Literaturlehrer anbahnen. Nur zaghaft, fast mühsam und quälend langsam kommen sich die beiden ungleichen einsamen Menschen näher. Dasselbe läßt sich über das Tempo des Agierens sagen, das die beiden Hauptfiguren des neuen Romans »Bis nächstes Jahr im Frühling« an den Tag legen. Mit einem großen Unterschied. Dieses Mal geht es nicht um ein Zueinanderfinden, sondern um ein Auseinandergehen. Das Thema ist universell und eigentlich schnell erzählt: Das Ende einer Beziehung. Doch Kawakami zelebriert diese Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit mit einer dahinfließenden Langsamkeit und einer unaufgeregten Sprache bar jeder Schnörkelei.

Noyuri und ihr Ehemann Takuya sind ein kinderloses Paar und führen bereits im siebten Jahr eine Ehe, »eine ruhige, ereignislose Beziehung« ohne Leidenschaft. Als Noyuri durch einen anonymen Anruf erfährt, dass Takuya eine Geliebte namens Satomi hat, leugnet er die Beziehung nicht. Mehr noch, er bietet ihr die Möglichkeit einer Scheidung an. Noyuri aber will zunächst keine Trennung. Sie trifft sich mit der energischen und selbstbewussten Satomi, sogar mehrfach. Eine Aussprache mit ihr aber gelingt Noyuri nicht. Die anonymen Anrufe reißen nicht ab. Bis sich herausstellt, dass Takuya noch eine weitere Liebesbeziehung mit seiner Arbeitskollegin Fumi unterhält. Es ziehen Monate ins Land, bis Noyuri fähig ist, die ersten Schritte einer räumlichen Trennung zu vollziehen.

Wie in ihren bisherigen Werken auch, findet sich in »Bis nächstes Jahr im Frühling« ausgesprochen wenig Handlung. Abgesehen von einem Umzug, zwei kurzen Reisen zu Kurorten mit heißen Thermalquellen und einigen mehr Restaurantbesuchen gibt es kaum welche. Getragen wird die Geschichte von Gesprächen, Tagträumen, Telefonaten und Erinnerungen an die Kindheit Noyuris. Dabei erweist sich Hiromi Kawakami als eine Meisterin des Minimalismus, der zarten Andeutung und der Zurückhaltung. Die Sprachlosigkeit der Liebenden ist zwischen den Zeilen der geschickt komponierten Dialoge stets präsent. Das macht den Roman zu einer elegisches Meditation über die Vergänglichkeit der Liebe.

– Nevfel Cumart

Hiromi Kawakami: Bis nächstes Jahr im Frühling. Roman. Hanser Verlag; München. 224 Seiten.

 


Saphia Azzeddine: »Zorngebete«

Am Arsch der Welt

Eine drastische Geschichte vom Hirtenmädchen zur Hure

Die Ansage ist kurz und klar: »Sie brauchen gar nicht ›bäh!‹ zu sagen. Ich werde keine Poesie hineinlegen, wo keine ist.« Und in dem Auftakt des Romans liegt wahrlich keine Poesie: Jbara ist sechzehn Jahre alt und wird gevögelt. Von hinten. Von dem Hirten Milioud. Er stinkt. Weil Jbara aber auch stinkt, hebt sich das am Ende auf. Milioud grunzt wie ein Schwein und vögelt »wie ein Kamel, mit schwitzenden Eiern«. Das Elend stinkt nach Arsch. »Und Milouds Arsch hat nie Wasser gesehen«. In einer schmutzigen Plastiktüte lässt Miloud jedes Mal einen Granatapfeljoghurt und einige Schokoladenkekse für Jbara zurück. Für sie »das Maximum an Genuss«.

Jbara Ait Goumbra lebt mit ihren Eltern und sieben Geschwistern in einem Ziegenlederzelt »am Arsch der Welt«, weniger drastisch: in einem abgelegenen marokkanischen Dorf namens Tafafilt. Die einzige Verbindung zur Welt ist ein Bus, der zweimal in der Woche am Dorf vorbei fährt. Inmitten der Einöde sind die Schafe, die Jbara hütet, alles was sie hat. Sie liebt diese Schafe. Das ist es auch schon. Alles andere ist weniger liebenswert. Zum Beispiel der tyrannische Vater: »Einmal habe ich in seiner Gegenwart nur gesagt, dass es zu heiß wäre und wie lästig das sei, da hat er mir gleich eine runtergehauen. Nach seiner Idiotenlogik war das Gotteslästerung, weil es Allah ist, der das Wetter macht«.

Ständig hört der Vater auf die Worte des »fkih«, dem Geistlichen in der benachbarten Siedlung, dem »größten Idioten des Dorfes«. Der auf »Kosten der Armen und Unwissenden« lebt. Der ständig predigt, dass die größte aller Sünden für junge Frauen darin bestehe, keine Jungfrau mehr zu sein. Pech für Jbara, dass Miloud sie schwängert. Der Vater verstößt sie und jagt sie aus dem Dorf. Glück für Jbara, dass aus einem vorbeifahrenden Bus ein rosaroter Rollenkoffer mit dem Aufdruck »J’taime d’Dior« herunterfällt. Darin ein Bündel Geld und eine Ausstattung an gewagter Unterwäsche, die dem schönen Hirtenmädchen die Zukunft weisen wird.

Sie bricht auf in die Stadt und arbeitet zunächst als Küchenhilfe. Sie bezahlt mit abendlichen Blowjobs für ein kleines Zimmer über dem versifften Restaurant. Ihr Kind gebärt sie im Straßenstaub und lässt es zurück. Ein Schmerz und Elend »bis zum Gehtnichtmehr«. Danach der nächste Job. Ein kleiner Aufstieg als Hausmädchen in einer reichen Familie.

Dort wird sie vom Hausherrn, dem Sidi, regelmäßig vergewaltigt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll, weinen ist so altmodisch«. Doch Jbara zerbricht auch hier nicht, bewahrt ihre innere Freiheit. Und als der Sidi aus einer Laune heraus ihr die eigene Lust vor Augen führt, trifft sie eine Entscheidung: Sie wird eine Prostituierte, tanzt in einem edlen Nachtclub, verdient so viel, dass sie ihren Vater gnädig stimmt mit einem Fernseher, vor dem die arme Sippe eintönige Stunden verbringt. Das Ziegenlederzelt bekommt eine Satellitenschüssel, während aus Jbara die schöne »Scheherazade« wird, die Gespielin eines reichen Scheichs, der seine sexuellen Gelüste und Perversionen an ihr austobt. Ein hoher Preis.

Und er steigt: Bei einer Razzia in der noblen Villa des Scheichs wird sie erwischt und kommt für drei Jahre wegen Prostitution ins Gefängnis. Wieder Elend, der sie umgibt. Und Streitereien mit anderen Frauen, bei denen sie zwei Zähne verliert. Nach dem zermürbenden Gefängnis weist das Schicksal Jbara einen Weg, um der Armut auf der Straße zu entfliehen. Sie wird als »Khadija« die dritte Frau ausgerechnet eines Imams.

Während all dieser Zeit hat Jbara einen Vertrauten: Allah. Zu ihm spricht sie ständig, zu ihm betet sie manchmal. Manchmal klagt sie auch. Mal ist sie wütend, mal dankbar. Oft aufgebracht. Doch niemals macht sie ihn schuldig für ihr Schicksal. Manchmal fragt sie ihn auch und bettelt um Verständnis: »Kann man seinem Schicksal entgehen? Hat ein Mädchen wie ich überhaupt ein Schicksal? Kannst Du mir im Ernst zum Vorwurf machen, dass ich ein Dach überm Kopf der Straße vorgezogen habe, ein bisschen Wärme der Kälte und ein Bett dem Bordstein?«

Wer solch ein drastisches Buch in solch zorniger Sprache schreibt, tut gut daran, sich vom literarischen Ich zu distanzieren. Die 1979 in Agadir geborene Saphia Azzeddine betont in Interviews, selbst »behütet« aufgewachsen zu sein. Mit neun Jahren kam sie mit ihrer Familie nach Frankreich, wo sie später Soziologie studierte. Bekannt war sie in erster Linie als Schauspielerin und Drehbuchautorin gewesen bevor sie mit »Zorngebete« in 2008 ihr Romandebüt vorlegte. Mittlerweile folgten drei weitere Romane der attraktiven Autorin, die von Kritikern und Fans als »moderne Scheherazade« bezeichnet wird. In Deutschland wurde man zunächst 2011 als Regisseurin auf sie aufmerksam, als sie ihren zweiten Roman »Mein Vater ist Putzfrau« verfilmte.

Mit »Zorngebete« ist Azzeddine eine sehr eigenwillige Emanzipationsgeschichte aus der Welt jenseits des Schleiers gelungen. Jbaras verstörende Direktheit, ihre stellenweise vulgäre Sprache, die Tabubrüche, mit denen sie mit Allah ins Gericht geht, täuschen nicht darüber hinweg, dass diese eigenwillige junge Frau ohne Larmoyanz Entscheidungen trifft. Und die Konsequenzen daraus trägt. Bis sie schließlich ihren inneren Frieden findet.

– Nevfel Cumart

Saphia Azzeddine: Zorngebete. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin. 121 Seiten.

 


Elif Shafak: »Die vierzig Geheimnisse der Liebe«

Du bist Wind und ich bin Feuer

Eine literarische Hommage an den islamischen Mystiker Rumi

»Er ist kein Prophet, und doch hat er ein Buch!« Der so Gepriesene ist Dschalal ad-Din Rumi (1207 – 1273), der größte Mystiker und einer der wichtigsten Dichter in der islamischen Geschichte. Rumis Hauptwerk »Mathnawi« enthält mit seinen rund 27 000 Doppelversen die gesamte Tradition der islamischen Mystik im Mittelalter und wird bis heute in tiefer Verehrung als »Der Koran in persischer Sprache« bezeichnet. Und aus ebensolcher Verehrung gab man Rumi zu Lebzeiten den Beinamen »Maulana« (unser Meister).

Rumi wird von vielen Seiten vereinnahmt: Da er in Balch geboren wurde, beharren die Afghanen darauf, dass er einer von ihnen sei. Da er in persischer Sprache schrieb, beanspruchen die Iraner ihn für sich. Und da er die meiste Zeit in Konya lebte, wo auch sein Mausoleum steht, behaupten die Türken stolz, dass er ein Türke sei. Doch Rumis universelle Lehre von der Liebe überschreitet solche Grenzen und wird weltweit rege rezipiert. Insbesondere in den USA sind Gedichtsammlungen von ihm Bestseller und werden von einer studentischen Leserschaft verschlungen. Es ist fraglich, ob sie jenseits der esoterischen Oberfläche in die Tiefe von Rumis Denken vordringen kann.

Unfraglich ist, dass die türkische Schriftstellerin Elif Shafak Rumis Leben und Werk zu erfassen vermag, widmete sie sich doch seit Jahren der islamischen Mystik. Da war es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis Rumi eine zentrale Rolle in einem ihrer Romane spielt.

Shafak beschreibt die Begegnung Rumis mit dem Wanderderwisch Shamsuddin, einem eigenwilligen Geist, der auf der Suche nach Gott weit vorangeschritten ist und sich über jegliche Konventionen setzt. Das Zusammentreffen mit dem unkonventionellen Derwisch wirft den berühmten orthodoxen Gelehrten aus der Bahn. Wochenlang ziehen sich beide in ein Zimmer zurück, sind Spiegel füreinander, vergessen die Umwelt, derweil sich durch Neid und Mißgunst Schlimmes anbahnt.

Doch die Geschichte um Rumi und Shamsuddin spielt sich im Hintergrund ab, es ist der Roman im Roman. Im Vordergrund von »Die vierzig Geheimnisse der Liebe« steht die 40jährige Ella Rubinstein, die mit ihrem Mann David und den drei Kindern in Northampton bei Boston lebt. Liebe steht nicht im Mittelpunkt von Ellas Leben. Eher eine Leere, die sie zusehends stärker verspürt. Ihr Mann betrügt sie seit Jahren, die ältere Tochter Jeannette will aus der Familie ausbrechen und Ellas einzige Leidenschaft, das Kochen, verspricht auch kaum Befriedigung. Da kommt ihr der Nebenjob als Gutachterin für eine Literaturagentur ganz recht. Doch Ella kann nicht ahnen, dass der erste Roman, den sie begutachten soll, sie zunächst in den Bann und später aus der Bahn werfen wird.

Das Manuskript heißt »Süße Blasphemie« und erweist sich als ein historischer Roman über die außergewöhnliche Freundschaft zwischen Rumi, »dem meistverehrten geistlichen Führer in der Geschichte des Islams« und Schamsuddin, »einem unbekannten wie skandalträchtigen Derwisch«. Von den ersten Seiten an ist Ella fasziniert von dem Roman. Aber auch von seinem Verfasser A. Z. Zahara, der in seiner Einleitung ganz im Geiste Rumis postuliert, dass die »Liebe der eigentliche Kern, der eigentliche Zweck des Lebens« sei. Sie nimmt per Mail und Brief einen intensiven Kontakt zu ihm auf und trifft sich sogar mit ihm in Boston. Überwältigt ist sie von diesem Mann, so wie einst Rumi von Shamsuddin, der aus dem Gelehrten durch die Flamme der Liebe einen Dichter machte.

Die 1971 geborene Elif Shafak ist eine Kosmopolitin: In Strassburg geboren und in Madrid aufgewachsen, studierte und promovierte sie in der Türkei, um später in Tuzcon zu lehren. Derzeit pendelt sie zwischen London und Istanbul. Dass sie eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen der Türkei ist und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, ließ sie nicht in das Seichtwasser des literarischen Mainstreams gleiten. Im Gegenteil. Weil sie in ihrem Roman »Der Bastard von Istanbul« die Vertreibung und die Massaker an den Armeniern thematisiert hatte, musste sie sich 2006 wegen »Herabwürdigung des Türkentums« vor Gericht verantworten.

»Die vierzig Geheimnisse der Liebe« schrieb Shafak, sehr zum Leidwesen der türkischen Ultranationalisten in Englisch. Es gelingt ihr, die beiden Erzählstränge geschickt miteinander zu verweben. Jedes Kapitel wird aus der Perspektive eines anderen Charakters erzählt und somit eine vielschichtige Erzählstimme komponiert. Literarisch hat Shafak eine doppelte Liebesgeschichte vorgelegt. Als kosmopolitische Vermittlerin hat sie den Fokus auf eine Facette des Islams gelenkt, die hierzulande in der unseligen Salafismus-Debatte kaum zur Kenntnis genommen wird. Die Presse in den USA und England war voll des Lobes über Shafaks Roman. Für die große britische Tageszeitung The Independent »verdient dieser Roman, ein weltweites Verkaufsphänomen zu werden«. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

– Nevfel Cumart

Elif Shafak: Die vierzig Geheimnisse der Liebe. Roman. Kein & Aber Verlag; Zürich, 2013. 508 Seiten.

 


Marina Lewycka: »Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere«

Bergarbeiter sind die Hebammen des Sozialismus!

Ein Roman voller Klamauk, Konflikt und Kuriosität

Manche Schriftsteller-Karrieren starten spät, zünden dann aber wie eine Rakete, um ein demonstrativ plakatives Bild zu benutzen. So geschah es bei Marina Lewycka, die bis dato an der Sheffield Hallam University im Bereich Medienwissenschaft unterrichtet: Sie veröffentlichte mit knapp 60 Jahren ihren fulminanten Debütroman »Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch«, der die Bestsellerlisten stürmte und innerhalb kurzer Zeit in fast drei Dutzend Sprachen übersetzt wurde. Die Überraschung gelang ihr im Jahre 2005 und bescherte uns mit der ukrainisch-britischen Immigrantenburleske eine angenehme Abwechslung inmitten der unseligen Vampir-und-Fantasy-Fortsetzungsromane der Twilight-Saga um Edward, Bella und Co.

Dass ihr bislang vierter Roman »Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere« auch zu einem Bestseller avancieren wird, ist keine allzu waghalsige Prognose. Denn die als ukrainisches Flüchtlingskind 1946 in Kiel geborene und später in England aufgewachsene Lewycka beherrscht die richtige Dosierung von Klamauk, Konflikt und Kuriosität. Dabei vergisst sie aber eines nicht: Kritik. Nicht umsonst tituliert die britische Presse sie auch als »politische Autorin« und nicht umsonst wurde sie mit ihrem zweiten Roman »Caravan« in 2007 für den Georg-Orwell-Preis nominiert, immerhin der wohl renommierteste Literaturpreis für politisches Schreiben im angelsächsischen Sprachraum.

In »Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere« richtet sich die Kritik in erster Linie gegen die von unersättlicher Gier geprägten Banker in der Londoner City und der sozialen Ungleichheit im britischen Lande. Diese Misere zeigt Lewycka vordergründig an einer ehemaligen Hippie-Familie auf, die ab dem Ende der 1960er Jahre in einer Landkommune im südlichen Yorkshire mit Gleichgesinnten lebte und heute ihren Platz in der Welt sucht. Da sind zunächst Doro und Marcus, das alternde Hippie-Paar, das sich nach über vierzig Jahren freier Liebe und Opposition gegen den kapitalistischen Mainstream entschließt, zu heiraten. Sie träumen von einem großen Fest und wollen alle Wegbegleiter aus der Kommune zusammentrommeln.

Diese spontane Ankündigung trifft die beiden erwachsenen Kinder auf dem falschen Fuß, denn sie haben reichlich eigene Sorgen. Tochter Clara arbeitet als Lehrerin an einer Schule im sozialen Brennpunkt von Doncaster und versucht vergeblich, wenn schon nicht die ganze Welt so doch wenigstens einige unterprivilegierte Kids zu retten. Ganz anders ihr Bruder Serge. Das Mathegenie hat in Cambridge studiert und promoviert »offiziell«. Doch in Wirklichkeit arbeitet er als quantitativer Analyst bei »Finance and Trading Consolidated Alliance«. Anders gesagt: Mit seinen Algorithmen, Fibonacci-Folgen und Gauß-Kurven mischt Serge gewaltig mit im Haifischbecken der Investmentbanker. Und da er von einem Haus mit Pool in Brasilien träumt, ebenso von ungezügelter Liebe zu seiner atemberaubend hübschen Kollegin Maroushka und da er nicht so verdammt lange warten möchte, macht er illegale Geschäfte auf eigene Kosten. Blöd nur, dass wir das Jahr 2008 schreiben und mit dem Kollaps von Lehman Brothers die größte Finanzkrise der Neuzeit ihren Lauf nimmt und Serge das von der Bank »geliehene« Geld verpulvert.

Marina Lewycka erzählt ihre Geschichte mit drei Handlungssträngen und lässt abwechselnd Sohn Serge, Tochter Clara und Mutter Doro zu Worte kommen. Manchmal drohen ihr die Stränge aus der Hand zu entgleiten. Während Doro in alten Erinnerungen schwelgt, rechnet sie insgeheim mit der Generation der Alt-68er ab. Clara verbannt hingegen jedes nostalgische Gefühl für Linsenpampe, Baumwollkaftane, Marxismus und die »Gemüsehaftigkeit von Gemüse« aus ihrem Leben und bemerkt dabei ihre Unzufriedenheit nicht. Und in Serges Lebensweise kollidiert die Vergangenheit mit der Gegenwart und führt zu einem Showdown, in dem alle maßgeblich Beteiligten nicht ohne Blessuren davon kommen.

Man sollte sich von dem an sozialistische Plakatkunst erinnernden Coverdesign keineswegs irritieren lassen. Neben all dem ironischen Klamauk und Komödienhaften hat uns Marina Lewycka auch einiges mit Tiefgang zu bieten. Allein schon wegen des Zynismus der Banker, Trader und »Fraktal-Freaks«, an dem sie uns aus der Erzählperspektive von Serge teilhaben lässt, wegen der legalen Betrügereien mit Asset-Back Securities, Derivaten und Hedgefonds und der Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen lohnt sich die Lektüre dieses Romans!

– Nevfel Cumart

Marina Lewycka: Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag; München. 460 Seiten.

 


Jakob Arjouni: »Bruder Kemal. Kayankayas fünfter Fall«

Der deutsch-türkische Straßenköter

Kemal Kayankaya ermittelt nach über zehn Jahren wieder in Frankfurt

Wie grausam kann ein Schriftsteller bloß sein! Erst lässt uns der in Berlin lebende Jakob Arjouni zehn lange Jahre warten. Dann liefert er uns auch noch einen völlig veränderten Privatdetektiv Kemal Kayankaya, den wir kaum wieder erkennen! Und doch lesen wir begierig Zeile für Zeile und sind dankbar, dass »Bruder Kemal« endlich wieder im Einsatz ist und im Frankfurter Dreck wühlt.

Der ist mittlerweile 53 Jahre alt, säuft kein Bier mehr, hat reichlich Bauch angesetzt, mit dem notorischen Rauchen aufgehört, fährt schwitzend Fahrrad, lebt mit einer ehemaligen Prostituierten in einer gepflegten Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Frankfurter Westend und liebäugelt mit dem Vaterwerden. Was würden die Kollegen Philip Marlowe und Sam Spade wohl zu soviel Demütigung sagen? Doch noch ist nicht alles verloren. Denn von seiner alten Straßenköter-Mentalität und seinem unfehlbaren Auge hat Kemal Kayankaya scheinbar nichts eingebüßt. Das wird schon auf den ersten Seiten klar, als er eine bildhübsche und reiche Mandantin aufsucht.

Valerie de Chavannes ist eine französische Bankierstochter und Künstlergattin, bewohnt eine noble Villa im Frankfurter Diplomatenviertel und macht sich große Sorgen um ihre verschwundene Tochter, die vermutlich mit einem Fotografen durchgebrannt ist. Kayankaya soll die 16-jährige Marieke gegen einen imposanten Tages- und Schweigesatz finden und heimbringen. Sieht aus wie leicht und schnell verdientes Geld, zumal Mutter de Chavannes die Adresse des reizenden Fotografen (und Ex-Liebhabers) kennt.

Doch Arjouni wäre nicht Arjouni, wenn sich dieser Fall nicht als ein Sumpf aus Prostitution, Vergewaltigung, Drogenhandel und Mord entpuppen würde. Und wenn er seinem arg gebeutelten deutsch-türkischen Privatdetektiv nach solch einer Dekonstruktion nicht noch eine weitere Bürde aufhalsen würde: Kayankaya wird zeitgleich von der Pressefrau eines Verlages engagiert, für einen bedrohten islamischen Autor auf der Frankfurter Buchmesse Bodyguard zu spielen. Der »Skandalautor« Malik Rashid kommt aus Marokko und schreibt in seinem Roman über den Umgang mit Homosexualität in einem arabischen Land. Auch hier rechnet Kayankaya mit einem leichten Spiel, zumal er gleich die Drohkulisse als Marketingmittel durchschaut. Pech nur, dass Rashid entführt wird und der Fall vollends aus dem Ruder gerät. Am Ende finden wir einen – immer noch – hartgesottenen Kayankaya, der um Haaresbreite einer Mordanklage entgeht und sich glücklich schätzen kann, dass er einen rumänischen Freund im Polizeipräsidium hat, der so deutsch aussieht, »als hätte Himmler ihn für den Erhalt der öffentlichen Ordnung noch persönlich züchten lassen«.

Islamisten, die mit Drogen dealen, Zuhälter, die in feinen Kreisen verkehren, Verlagsangestellte, die mit getürkten Gefahrenszenarien den Buchverkauf ankurbeln, religiöse Eiferer, die vor Kidnapping nicht zurück schrecken, Upperclass-Frauen mit dunkler Vergangenheit. Arjouni bietet ein beeindruckendes Arsenal an Figuren auf und bettet sie in zwei Handlungsstränge ein, an deren Zusammenführung zweitklassige Autoren kläglich gescheitert wären. Bei ihm entsteht daraus mit sarkastischem Humor und einer unbeschreiblichen Leichtigkeit eine ausgeklügelte Story, anders gesagt: hohe Krimi-Kunst, die reichlich mit überzeugenden Milieustudien angereichert ist! Und keine Frage: Hierzulande gibt es niemanden, der so gekonnt Dialoge schreiben kann wie Arjouni!

– Nevfel Cumart

Jakob Arjouni: Bruder Kemal. Kayankayas fünfter Fall. Roman. Diogenes Verlag; Zürich, 2012. 240 Seiten.

 


Steve Stern: »Der gefrorene Rabbi«

Aus einem polnischen Ghetto in die Moderne

Jüdische Erzählkultur mit skurrilem Personal und viel Humor

Der 1947 in Tennessee geborene Jude Steve Stern ist alles andere als ein Anfänger. Er weiß, dass ein Romanauftakt nicht wie die Einleitung einer Magisterarbeit klingen darf. Entsprechend furios beginnt sein neues Werk, das in Memphis angesiedelt ist.

Auf der Suche nach einem Stück Leber für eine neue Masturbationstechnik entdeckt der jüdische Teenager Bernie Karp in der Tiefkühltruhe seiner Familie einen alten Mann in einem großen grünlichen Eisblock. Vom Vater Julius erfährt der geschockte Bernie, dass es sich um einen gefrorenen Rabbi handelt, eine Art »Familientradition«. Mal etwas anderes als »präparierte Haustiere im Speicher«. Dumm nur, dass bei einem nächtlichen Stromausfall der Eis-Rabbi auftaut und plötzlich vor Bernie steht.

Da Bernie ein »Couch-Potatoe« ist, vollzieht Rabbi Elieser ben Zephir seine »kulturelle Akklimatisierung auf dem Sofa im Hobbyraum« und bekommt via Fernseher einen guten Einblick in das moderne Amerika und seine Gesellschaft, deren Verderbtheit aus den unzähligen Shows ihm entgegentritt.

»Wenn sie schwingen mit biegsame Beine, diese Töchter, bei den Orgien von dem MTV, da sagen nicht ihre Väter schon dos Kaddisch für sie?«, ist nur eine der vielen Fragen, die sich der aufgetaute »Rebbe« aus dem polnischen Dorf Boibicz verwundert stellt. Erstaunlicherweise verkraftet Rabbi Elieser ben Zephir den »Kulturschock« und den Zeitsprung von über hundert Jahren gut.

Mehr noch: Ihn reizt die Hektik des modernen »American Way of Life« und setzt unternehmerischen jiddischen Tatendrang frei. Er gründet mit finanzieller Unterstützung von Julius Karp das »Haus der Erleuchtung«, in dem gestresste Amerikaner zu Ruhe und Seelenheil finden sollen. Schon bald wird aus den »Gotteserfahrungsangeboten des Rabbis vom preiswerten Schnellkurs in kosmischem Bewusstsein bis zum pittoreskeren, aber auch kostspieligeren Weg zur Selbsterleuchtung« ein florierendes Unternehmen.

Memphis ist zwar nicht der Nabel der USA, aber immerhin hat die Stadt schon einiges erlebt. Nachdem sie die Geburt des Rock’n’Roll und den Märtyrertod eines schwarzen Messias hinter sich hat, sind der Südstaaten-Metropole kontroverse Diskussionen nicht fremd. Aber die unwägbaren Kapriolen eines aufgetauten polnischen Heiligen mit uramerikanischem Geschäftssinn und sektenähnlicher Anhängerschar spalten die Bürgerschaft und rufen auch zahlreiche Neider, konservative Politiker und aufgebrachte Medien auf den Plan. Eine Katastrophe bahnt sich an.

Doch gemach, bis dahin sind noch viele Seiten zu füllen. Das erledigt Stern auch mit einem zweiten Erzählstrang, in dem er mit humorvollem jüdischem Kolorit schildert, wie der Rabbi von Bernies leidgeprüften Vorfahren im Eisblock aus einem polnischen Ghetto des Jahres 1889 bis nach Memphis geschafft wurde.

Stern hat sich mit dem Wechsel der beiden Erzählstränge und einem Zeitraum von über 100 Jahren sehr viel aufgebürdet. Da wundert es nicht, dass er nicht die Waage halten kann. Die eindeutig stärkeren und besonders fulminanten Passagen seines Romans widmet er der haarsträubend abenteuerlichen Reise des Rabbi-Eisblock-Sargs aus dem von Russen vernichteten polnischen Dorf über Lodz und New York bis nach Memphis. Da läuft Stern zur schriftstellerischen Höchstform auf. Dass dabei die Wandlung des »Eis-Heiligen« zum geschäftstüchtigen Kapitalisten nicht immer überzeugend genug dargestellt wird, liegt auf der Hand. Doch das beeinträchtigt das Lesevergnügen im Ganzen nicht. Denn der Blick in die Vergangenheit ist prall gefüllt mit Bildern, trotzt vor schierer Fabulierlust und Schlitzohrigkeit, bietet mehr als nur vordergründigen Sprachwitz und entwickelt einen derartigen Sog, dass man sich dem noch viel länger hingeben möchte. Diese Kapitel mit ihren irren Wendungen belegen eindrücklich, dass Stern ein legitimer Nachfolger von Isaac Bashevis Singer ist, der nicht zufällig bereits mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.

Bleibt noch zu erwähnen, dass Friedrich Mader eine glänzende Übersetzung vorgelegt hat und dieser meisterhaft skurrile Roman voller Tragik, Komik und jüdischer Philosophie ebenso absurd-fulminant endet, wie er begonnen hat.

– Nevfel Cumart

Steve Stern: Der gefrorene Rabbi. Roman. Karl Blessing Verlag, München. 496 Seiten.

 


Shahriar Mandanipur: »Eine iranische Liebesgeschichte zensieren«

Eine unmögliche Liebesgeschichte

Ein guter Roman ist die beste Rache!

Eine iranische Liebesgeschichte. Drei Worte – ein Paradoxon! Denn wie soll eine Liebesgeschichte überhaupt entstehen in einem Land, in dem ein Heer von Tugendwächtern mit Argusaugen die Öffentlichkeit kontrolliert, in dem jede Begegnung der Geschlechter vor der Ehe verboten ist, in dem nicht einmal verheiratete Paare auf offener Straße eindeutige Blicke oder zärtliche Berührungen austauschen dürfen.

Und was in der Realität verboten ist, darf in der Literatur auch nicht dargestellt werden, denn es könnte ja die Menschen zu unsittlichem Verhalten verführen. Diese Bücher entweder von allem Unsittlichen zu reinigen oder sie gar nicht erst erscheinen zu lassen, ist die Aufgabe des staatlichen Zensors.

Nun könnte man eine Geschichte schreiben über die Schwierigkeiten, die man als iranischer Schriftsteller mit der Zensur hat, wenn man eine Romanze zu Papier bringen will. Zweitklassige Schriftsteller hätten das vielleicht gemacht, Shahriar Mandanipur aber nicht. Er setzt zu einem postmodernen Roman an, der in seiner Virtuosität und Vielschichtigkeit seinesgleichen sucht. Mandanipur gelingt das Kunststück, seine Geschichte in dekonstruktivistischer Manier auf verschiedenen Ebenen zu erzählen.

Zum einen haben wir die Liebesgeschichte von Sara, der junge Literaturstudentin, und Dara, dem ehemaligen Filmstudenten, der wegen vermeintlicher politischer Aktivitäten verhaftet und gefoltert wurde. Über chiffrierte Codes in Büchern aus der Bibliothek versuchen sie, zueinander zu finden. Zum anderen haben wir einen Autor namens Mandanipur, der um seine Geschichte fürchtet, die Gedanken des Zensors kennt und lieber selbst viele heikle Passagen durchstreicht. Der Leser aber kann diese fett gedruckten, durchgestrichenen Passagen lesen, ebenso wie die typographisch in Magerdruck abgesetzten Auseinandersetzungen des Autors, der sich mit dem Zensor streitet und mit viel Mühe und Einsatz seine Geschichte und das Schicksal seiner Figuren verteidigt.

Als ob dieser Perspektivenwechsel nicht reichen würde, wendet sich der Autor noch auf einer weiteren Erzählebene an den Leser selbst und belehrt ihn über Geschichte und Politik, Sitten und Gebräuche, und insbesondere die staatliche Repression seines Landes. Bei der Gelegenheit gibt er dem Leser noch Verständnishilfen für gewählte Formulierungen, um einer etwaigen Zensur zu entgehen

Bleibt noch zu erwähnen, dass sich zudem die beiden Figuren Sara und Dara bei ihrem Erschaffer namens Mandanipur über Kürzungen und Änderungen beschweren. Was sich bei der Verflechtung dieser vielen Erzählstränge so schwierig und kompliziert anhört ist auch schwierig und kompliziert! Aber überraschenderweise klappt alles wunderbar. Mandanipur jongliert zwischen den einzelnen Ebenen, läßt alles fließend ineinander übergehen und schafft als Gesamtkunstwerk mehr als eine beklemmende Satire, die den Leser in ihren Sog zieht.

Der 1957 in Schiras geborene Mandanipur ist nicht nur einer der bekanntesten Autoren Irans, er ist sicher auch der modernste. Mit Zensur kennt er sich bestens aus, zumal er neben seinen Romanen über zehn Jahre lang als Chefredakteur einer iranischen Literaturzeitschrift arbeitete, die 2009 aus politischen Gründen verboten wurde. Zur Zeit lebt der preisgekrönte Autor in den USA und arbeitet als Gastdozent in Harvard.

Zudem ist Mandanipur ein sehr belesener Mann, dessen Kenntnisse der eigenen Literaturtradition nicht nur bis zum verehrten Dichter Nizami zurückreichen, von dem er in seinem Buch reichlich zitiert, sondern der auch die abendländische Literatur bestens kennt.

Sein Roman strotzt vor intertextuellen Bezügen und nicht immer sind sie so ironisch überspitzt eingesetzt wie die Figur des unbarmherzigen Zensors, der Porfirij Petrowitsch heißt, so wie der akribische Untersuchungsrichter in Dostojewskis Roman »Schuld und Sühne«.

Als Mandanipur als junger Mann sich freiwillig zur Armee meldete und kämpfte, später auch für die Revolution kämpfte, die er ebenso wie viele andere herbeisehnte, wie hätte er damals ahnen können, welche Republik aus der Revolution hervorgehen würde? Eine Republik, die die totale Kontrolle haben will, die den Menschen die Luft zum Atmen nimmt, die Künstler schikaniert und gängelt und nicht wenige von ihnen ins Ausland treibt.

Auch wenn sein Roman nicht in seiner Heimat erscheinen darf, so darf Mandanipur dennoch triumphieren. Denn ein guter Roman ist die beste Rache! Der literarisch bewanderte Leser mag noch hinzufügen: Ein Stück Weltliteratur hat zu uns gefunden!

– Nevfel Cumart

Shahriar Mandanipur: Eine iranische Liebesgeschichte zensieren. Roman. Unionsverlag, Zürich, 2011. 319 Seiten.

 


Baha Taher: »Die Oase«

Tod in der Wüste

Eine postkoloniale Parabel aus Ägypten

Der 1935 im oberägyptischen Karnak geborene Baha Taher gehört zu der Generation Intellektueller, die den nationalen Befreiungskampf gegen die britischen Kolonialherren bewusst miterlebt haben und sich 1952 mit den Zielen der Revolution unter Gamal Abd el-Nasser identifizierten. Aber das Verhältnis zur Ära des legendären Helden des arabischen Nationalismus einerseits und sein politisches Vermächtnis unter Präsident Anwar as-Sadat andererseits blieben geprägt von einer großen Unzufriedenheit.

Folglich verließ Taher seine Heimat Ägypten und arbeitet rund zwanzig Jahre als Übersetzer bei der UNO in Genf bis er schließlich 1995 zurückkehrte. In den folgenden Jahren avancierte er mit seinen Romanen zu einem der meistgelesenen Autoren in der arabischsprachigen Welt und wurde in Ägypten mehrfach ausgezeichnet. Für seinen jüngsten Roman »Die Oase« erhielt er 2008 den mit 50.000 Dollar dotierten und erstmals verliehenen »Arabic Booker Prize« für den besten arabischen Roman.

Der wegen seiner Sympathie für die anti-britischen Rebellen in Ungnade gefallene Offizier Machmud Abdel Sahir wird 1897 von den britischen Herrschern im ägyptischen Innenministerium zum Distriktkommissar der Wüstenoase Siwa nahe der lybischen Grenze ernannt. Auf dem Papier bedeutet diese Ernennung einen Aufstieg für Machmud, aber in der Realität führt sie ihn und seine irische Frau Catherine in ein Dilemma, an dessen Ende weniger der Erfolg denn der Untergang droht. Nicht umsonst sind die beiden Vorgänger Machmuds in der Oase ermordet worden.

Einerseits muss Mahmud um jeden Preis die ausstehenden Steuern und Abgaben in Form von vielen Tonnen Datteln und Olivenöl von den widerspenstigen Berberstämmen eintreiben. Andererseits erlauben die archaischen Gebräuche und Traditionen der miteinander verfeindeten Oasensippen ihm und seiner Frau keinen Zugang zu den Menschen. Die Mission ist zum Scheitern verurteilt.

Hinzu kommt noch die Eigensinnigkeit von Catherine, die als Hobby-Archäologin davon besessen ist, das Grab von Alexander dem Großen in einem der Tempel in der Oase zu finden. Mit ihrem verblendeten Forscherdrang ruft die unverschleierte Frau nicht nur bei den führenden Scheichs der Oase mehr als nur Empörung hervor. Als auch noch ihre schwer kranke Schwester Fiona zu Besuch kommt, mehren sich die Missverständnisse zwischen den Protagonisten. Gerüchte und Intrigen in der Oase, abgekartete Machtspiele dort wie in Kairo und Sprachlosigkeit auf beiden Seiten führen schließlich unaufhaltsam in die Katastrophe.

Baha Taher hat einen Roman vorgelegt, der als eine Parabel auf die bisherigen Niederlagen der Ägypter wie der arabischen Völker in der nachkolonialen Zeit gelesen werden kann. Mit dem Offizier Machmud hat er eine gebrochene Figur erschaffen, deren Heldenmut theoretischer Natur ist und für eine Auflehnung gegen die Repression des Staates und ihrer Machthaber nicht reicht. Von seinen ungenutzten Chancen und Seelennöten erfahren wir allerdings nur in ausgewählten Kapiteln, denn Taher arbeitet mit ständigen Perspektivenwechseln. Wird die Geschichte zunächst im Wechsel der beiden Figuren Machmud und Catherine erzählt, kommen später auch noch zwei miteinander rivalisierenden Scheichs der Oase sowie ein längeres Kapitel aus dem Munde Alexander des Großen hinzu.

Das ergibt eine gelungene Mischung aus menschlichen Fehlern und Schwächen, überkommenen arabischen Bräuchen und griechischen Mythen, die allesamt in einen Roman mit offenem Ende fließen.

– Nevfel Cumart

Baha Taher: Die Oase. Roman. Unionsverlag Zürich, 2011. 333 Seiten.

 


Zafer Senocak: »Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift«

Jenseits der deutschen Leitkultur

Zafer Senocak beschäftigt sich mit der Frage nach deutscher Identität

Zafer Senocak ist mit Sicherheit ein Mann, dem Thilo Sarrazin nicht begegnen möchte, damit dieser Wahl-Berliner nicht sein Weltbild vom ungebildeten Migranten und sein herbeigeschriebenes Untergangszenario für Deutschland in Wanken bringen soll. Senocak ist auch ein Mann, dem Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer wohl noch nicht begegnet ist, denn sonst hätte man schon längst in den Medien ein Schwärmen darüber vernommen, wie sehr Senocak mit seiner »story of success« dem von Seehofer geforderten Bekenntnis zur deutschen Sprache nachgekommen ist.

Der 1963 als Sohn eines Lehrerehepaars in Istanbul geborene Senocak kam im Alter von acht Jahren nach Deutschland und widmete sich bereits als Jugendlicher der Lyrik. Mittlerweile umfaßt sein Werk mehr als zwei Dutzend Bücher mit Gedichten, Romanen, Essays und Übersetzungen. Keine Frage, Senocak ist sicher der klügste Kopf unter den Schriftstellern türkischer Herkunft in Deutschland und ein scharfsinniger Beobachter der hiesigen Zustände. Er ist zudem ein profunder Kenner der deutschen Philosophie und Literaturgeschichte ebenso wie der islamischen Geschichte, der zu beachtlichen Analysen fähig ist. Jetzt kommt noch das Sahnehäubchen: Senocak, der für seine Literatur mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, kann schreiben, kann herrlich präzise und unaufgeregt formulieren. Seine Ansichten sind differenziert, seine Sprache geschliffen, der Aufbaus seiner Essays wohl durchdacht. Das macht sein Buch »Deutschsein« neben einem verblüffenden Erkenntnisgewinn zu einer sehr angenehmen Lektüre inmitten all der marktschreierischen Bücher zum Thema »Migranten in Deutschland«.

Was heißt eigentlich »Deutschsein«? Um auf diese Frage eine überzeugende Antwort zu finden, blickt Senocak in die deutsche ebenso wie in die türkische Geistes- und Gefühlsgeschichte zurück. Dabei analysiert er auch Thomas Manns wichtigen Kulturbegriff mit seiner Unterscheidung zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation und spürt dem Geist und Seelenzustand der deutschen Nation vor und nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Hier widmet er sich auch dem Wirken von Walther Rathenau und Konrad Adenauer, der mit der erfolgreichen Anbindung an den Westen schließlich Rathenaus Traum verwirklichte.

Senocak attestiert den Deutschen einen Mangel an Selbstbewußtsein und auch an Offenheit. Vielleicht ist es dadurch zu erklären, dass sie sich selbst nur über die Abgrenzung vom anderen definieren und zudem auf die nicht nur an Stammtischen viel beschworene »deutsche Leitkultur« pochen. »Dieser tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes bezweckt nur eines: die Abgrenzung gegenüber dem Islam«, so Senocak. Doch statt einer wie auch immer gearteten Nationalkultur sollte man sich an den grenzüberschreitenden Werten der Zivilisation richten, die aus der Aufklärung entstanden ist, plädiert Senocak in seiner »Aufklärunsschrift«. Sie sollten der universelle Maßstab sein, an der sich alle Menschen orientieren, ganz gleich ob Einwanderer und Deutsche.

Für Senocak ist eines der Grundprobleme im Umgang mit dem muslimischen Migranten, dass sie alle in einen Topf geworfen werden. Er rät dringend dazu, die Biografien von Muslimen als Individuen zu betrachten, statt wie bisher über die Muslime als Kollektiv zu sprechen. Gegen dieses Kollektivbild schreibt Senocak beharrlich an. Dabei belässt er es nicht bei Beobachtung und Analyse, sondern bringt auch viel Autobiographisches ein. So belegt er auch, dass man wohl in der deutschen Sprache sich heimisch fühlen kann ohne die türkische komplett abzustreifen. Wenn also Sprache Heimat ist, so hat Senocak diese längst gefunden. Denn man spürt in »Deutschsein« aus jeder Zeile die Liebe zur deutschen Sprache heraus.

Inmitten der Deutschland-schafft-sich-ab-Panikmache und der unsachlich geführten Integrationsdebatte hierzulande ist Senocak »Aufklärungsschrift« ein nicht zu unterschätzender ruhiger Beitrag. »Deutschsein« ist das Buch eines Autors mit differenzierenden Ansichten, dem man viele Leser und rege Diskussionen wünscht.

– Nevfel Cumart

Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber Stiftung, 2011, 190 Seiten.

 


Orhan Pamuk: »Cevdet und seine Söhne«

Ein Jahrhundert der Umbrüche

Pamuks Romandebüt überzeugt durch literarische Reife und psychologisches Einfühlungsvermögen

Die Biographie des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk ist sicherlich keine gewöhnliche für türkische Verhältnisse: 1952 in Istanbul geboren und aufgewachsen in einem gutbürgerlichen Ambiente mit Bediensteten, besuchte er die elitäre amerikanische Schule hoch über den Ufern des Bosporus. Später studierte er dem Wunsch der Familie folgend Architektur und Zeitungswissenschaften. Einer beruflichen Karriere stand eigentlich nichts im Weg. Nur die eigenen Wünsche und Lebensträume. Und die bestehen für den jungen Pamuk in der Hinwendung zur Literatur. Mit 22 Jahren fasst er den Entschluß, gegen den Willen der Familie Schriftsteller zu werden und widmet sich fortan mit Leib und Seele dem Schreiben.

Von der Mutter finanziell unterstützt, zieht Pamuk sich in das abgeschiedene Ferienhaus der Familie auf einer kleinen Insel vor Istanbul zurück und schreibt jede freie Minute. Er schreibt acht lange Jahre lang unbeirrt, bleibt aber ohne öffentliche Aufmerksamkeit und ohne eine Publikation. Denn für sein erstes Romanmanuskript, für den er sogar eine Auszeichnung erhält, findet er zunächst keinen Verlag. Erst 1982 wird »Cevdet und seine Söhne« veröffentlicht. Lange hat sich Pamuk gesträubt, sein »Jugendwerk« in eine andere Sprache übersetzen zu lassen. Nun liegt es endlich in einer glänzenden Übersetzung von Gerhard Meier vor.

Pamuk hat schon zu Anbeginn seines literarischen Schaffens mit verblüffender Intensität sein zentrales Thema gefunden: die brüchige Suche nach Identität zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine in vielfacher Hinsicht für die Türken schmerzliche Suche in einer Zeit des Übergangs, in der die Nachwirkungen des osmanischen Erbes mit der radikalen Verwestlichung und Europäisierung durch Mustafa Kemal Atatürk zusammenprallen.

Diese immerwährende Suche spiegelt sich vielschichtig in der Familiensaga »Cevdet und seine Söhne« wider, die im Jahre 1905 beginnt und bis Anfang der 1980er Jahre reicht. Wir begegnen und begleiten zum Auftakt des Romans Cevdet, einen Istanbuler Geschäftsmann, der als Muslim ein Außenseiter inmitten der griechischen und armenischen Geschäftsleute der Stadt ist. Der aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Kaufmann hat es mit dem Verkauf von Lampen an die Stadt und der Schiffahrtsgesellschaft zu Erfolg und Reichtum gebracht. Nun soll ihm noch die arrangierte Ehe mit Nigan, der Tochter eines osmanischen Paschas, den Eintritt in die besseren Kreise der Gesellschaft bescheren.

Vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche gehen aus dieser Ehe drei Kinder hervor, die im zweiten Teil des weit ausgreifenden Romans die Hauptrollen spielen: Osman scheint die Geschäftstüchtigkeit und den Ehrgeiz des Vaters geerbt zu haben und widmet sich dem Familienunternehmen. Refik hingegen sympathisiert eher mit dem einfachen Volk, hängt der marxistischen Lehre an und verfaßt ein aufklärerisches Buch. Und Ayse, die bezeichnender Weise nicht im Buchtitel auftaucht, steht für den Wandel der Geschlechterrolle im Zuge der Kulturreformen Atatürks. Ebenso wie ihre Brüder und der im dritten Teil des Romans als Künstler sich gegen die Konventionen auflehnende Ahmet, sucht sie ihren Platz in der neuen Nation. Und diese ist durch die forcierte Westorientierung, durch den aufoktroyierten Wechsel des Alphabets, der Zeitrechnung, der Kleiderordnung, des Rechtswesens und einigem mehr eine gänzlich andere geworden als zu Zeiten Cevdets. Gleich geblieben ist die Intensität der inneren Auseinandersetzung, der Debatten und der politischen Diskussionen, in die Pamuk seine Figuren ausgiebig stürzt, um somit das vielschichtige und komplexe Bild einer Gesellschaft im Übergang vom osmanischen Hof in die anatolische Steppe aufzuzeigen.

Pamuks Romandebüt ist mitnichten ein konventioneller Familienroman, ein traditioneller Gesellschaftsroman, der sich, wie im Nachwort bekräftigt, an Manns »Buddenbrooks« und Tolstois »Anna Karenina« orientiert. Es kann sicher sprachlich und stilistisch nicht mit den späteren Bestsellern wie »Das schwarze Buch« mit seinen unzähligen Anleihen aus den Literaturen von Ost und West oder »Schnee« mit seinen verblüffenden Perspektivenwechseln mithalten. Aber wer auf dem Weg der Literatur über die Geschichte der modernen Türkei informiert werden will, wer die radikalen Traditionsbrüche und den enormen Wandel in der türkischen Gesellschaft nachvollziehen und die heutige Türkei verstehen will, dem sei »Cevdet und seine Söhne« wärmstens empfohlen.

– Nevfel Cumart

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne. Roman. Hanser Verlag München, 2011. 659 Seiten.

 


Lauren Grodstein: »Die Freundin meines Sohnes«

Im Trümmerfeld des Lebens

Ein beklemmendes Porträt einer amerikanischen Mittelklassefamilie

Pete Dizinoff hat alles im Leben, was sich ein amerikanischer Familienvater der gehobenen Mittelschicht nur wünschen kann. Er ist ein angesehener Internist mit eigener Praxis in einem guten Wohnviertel, seine hübsche Frau Elaine unterrichtet an der Universität, sein Sohn Alec, das lang ersehnte und einzige Wunschkind, genießt die beste Ausbildung und steht kurz vor dem College. Die Familie bewohnt ein schönes eigenes Haus in New Jersey, nimmt rege an diversen Clubaktivitäten und jüdischem Gemeindeleben teil und pflegt insbesondere mit dem Ehepaar Joey und Iris eine seit vielen Jahren bestehende enge Freundschaft.

Alles läuft in geordneten Bahnen also. Besser gesagt: lief in geordneten Bahnen! Denn innerhalb kurzer Zeit wird aus der idyllischen Wohlstandsharmonie ein Trümmerfeld des Lebens. Wie? Das erzählt uns Lauren Grodstein in ihrem beklemmenden Roman »Die Freundin meines Sohnes«.

Die im Titel erwähnte Freundin ist auch der Stein des Anstoßes für den Weg in die Familientragödie. Sie heißt Laura, ist die Tochter von Petes bestem Freund Joey – und in seinen Augen eine Mörderin! Denn Laura war mit 16 Jahren schwanger, brachte ihr Kind verfrüht in der Toilette einer öffentlichen Bibliothek zur Welt und tötete es dort. So sah es zumindest der Staat New Jersey, der ihr daraufhin den Prozeß machte. Seitdem war Laura verschwunden, Gras über die Sache gewachsen in den vergangenen dreizehn Jahren.

Doch zum großen Verdruss von »Doktor Pete« ist Laura wieder zurück bei ihren Eltern und verdreht bei erster Gelegenheit Alec den Kopf. Dass sein 20-jähriger Augenstern mit einer 30-jährigen Kindsmörderin ausgeht, passt dem von Vaterliebe verblendeten Pete gar nicht in die Lebenspläne, die er für seinen Sohn entworfen hat. Er torpediert diese in seinen Augen verwerfliche und gefährliche Beziehung mit allen Kräften, doch ohne Erfolg. Schlimmer noch: Pete ist so auf das »Problem« fokussiert, dass ihm ein vermeidbarer Behandlungsfehler unterläuft und eine Patientin stirbt. Und als ob das nicht reichen würde, entschließt sich noch Alec, sein Studium an den Nagel zu hängen und mit Laura aufs Geratewohl nach Paris zu gehen. Daraufhin sieht Pete Dizinoff rot und handelt, mit katastrophalen Folgen für sich, seine Familie und seine besten Freunde Joey und Iris.

Laura Grodstein gelingt es, ohne große Effekthascherei eine Familientragödie zu erzählen, die vielleicht nicht in dieser drastischen Form, doch in ähnlicher Weise in so manchen Familien sich abgespielt haben könnte. Dabei gelingt ihr das kleine Kunststück, die Geschichte von Pete selbst erzählen zu lassen. Dass dieser mit seiner verbohrten Moralvorstellung, seiner abgöttischen Liebe zum Sohn und dem Lebensentwurf für ihn sicher ein unzuverlässiger Erzähler ist, liegt auf der Hand.

Grodstein läßt ihn in einer geschickten Komposition aus Rückblenden, Monologen und Zeitsprüngen die Geschichte erzählen und gibt den Lesern einen überzeugenden Einblick in den zerrissenen Charakter dieses im Grunde tragischen Vaters und Verlierers.

– Nevfel Cumart

Lauren Grodstein: Die Freundin meines Sohnes. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2011. 351 Seiten.

 


Najat El Hachmi: »Der letzte Patriarch«

Vom Untergang und von der Befreiung

Najat El Hachmis Familiendrama geht unter die Haut

Najat El Hachmi ist eine recht junge Stimme in der katalanischen Literaturlandschaft. Die 1979 in Marokko geborene Autorin wuchs seit ihrem achten Lebensjahr in Katalonien auf und sorgte erstmals 2004 mit dem vieldiskutierten Essay »Auch ich bin Katalanin« für Aufsehen. Für ihren 2008 auf Katalanisch verfaßten Debütroman »Der letzte Patriarch« erhielt sie für viele Beobachter überraschend den »Premi Ramon Llull«, den wichtigsten und höchstdotierten Literaturpreis Kataloniens. Das ist sicher nicht der einzige Grund, sich diesem Roman zu widmen, der mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.

Der Titel lässt es vermuten: Ein Patriarch ist zugange und wenn er herrscht, wird es für die anderen in der Familie alles andere als ein Zuckerschlecken. Und in der Tat: Mimoun Driouch, erstgeborener und lang erwarteter Sohn einer marokkanischen Familie in der abgelegenen Provinz, von allen geliebt und gehätschelt und von den Frauen umsorgt, mutiert zum archaischen, gewalttätigen Oberhaupt der Familie. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.

Und der beginnt mit einem »Mord« im Kindesalter: Um die Aufmerksamkeit von Mutter und Schwestern nicht zu verlieren, erstickt Mimoun kurzerhand den neugeborenen Bruder mit einem Kissen. Mit gut inszenierten Wutanfällen avanciert dieser »Elvis aus der marokkanischen Provinz« später zum jugendlichen Rädelsführer in seinem Dorf, mit dem auch Vater und Onkel nicht fertig werden. Er schikaniert und schlägt die Frauen in der Familie, wenn sie seinem überzogenen Ehrbegriff nicht folgen. Denn für sein schwarz-weiß-Denken waren Frauen, »die ihre Ehre nicht bewahrten, nichts weiter als das: Höhlen in die man eindrang, um seinen Druck abzulassen«. Drastischer läßt es sich nicht ausdrücken. Wen wundert es, dass Mimoun das tugendhafteste Mädchen aus dem Dorf heiratet. Vor seiner Schikane ist sie aber nicht sicher, ebenso wenig wie die Kinder. Mimoun geht bald auf Arbeitssuche nach Katalonien, holt später die mittlerweile »gezähmte« Familie nach, amüsiert sich trotzdem weiterhin mit spanischen Frauen, während er daheim zusehends despotischer wird. Jede Handlung von Frau und Tochter wird mit Argusaugen beobachtet, Schläge gehören zum Alltag, Messer fliegen nur knapp am Auge vorbei.

So drastisch wird die Geschichte Mimouns und die Demütigung seiner Familie geschildert. Die Ich-Erzählerin ist die namenlose Tochter des »Patriarchen«, die im Rückblick einen Bogen über zwei Generationen schlägt – von der Geburt des Vaters im abgeschiedenen Dorf bis zum Beginn ihres Studiums in der spanischen Stadt. Auch wenn der cholerische Vater lange im Vordergrund steht, erzählt die Tochter gleichzeitig auch ihre eigene Geschichte: Denn ihr gelingt allmählich eine Befreiung aus dem Joch patriarchalischer Unmündigkeit. Sie trotzt mit Erfolg (und vielen Lügen) der Unabänderlichkeit der Zustände und der Dinge, wie sie der Vater fatalistisch beschwört, um seine Macht zu erhalten. Diese Befreiung gipfelt auf den letzten Seiten des Buches in einer Rache am Vater und seinen selbstherrlichen Konventionen, die mehr als pikant und zugleich schrecklich ist.

Dass man »Der letzte Patriarch« trotz des unsympathischen Protagonisten nicht aus der Hand legen mag, ist der virtuosen, mit Nüchternheit ebenso wie mit ironischen Spitzen durchsetzten Erzählweise El Hachmis geschuldet – und dem inneren Wunsch, den Patriarchen irgendwann am Boden zu sehen. Ein lesenswertes Buch, das unter die Haut geht, das von männlicher Macht und Gewalt in der Familie genauso erzählt wie vom Schmerz und kultureller Entwurzelung in der Fremde. Und ein Debütroman, der eindrücklich belegt, dass gute Literatur auch von den Nachkommen maghrebinischer Migranten kommen kann.

– Nevfel Cumart

Najat El Hachmi: Der letzte Patriarch. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin, 2011, 350 Seiten.

 


Leila Marouane: »Das Sexleben eines Islamisten in Paris«

Die Last mit der Lust und Liebe

Leila Marouanes provozierender Roman über algerische Migranten

»Al-jannatu tahta aqdami al-umahat.« – »Das Paradies liegt zu Füßen der Mütter.« Ein berühmter Ausspruch des Propheten Muhammed, der verdeutlichen soll, welche Bedeutung der Mutter innerhalb einer Familie zukommt und warum die Kinder ihr noch vor dem Vater den höchsten Respekt entgegenbringen sollen. Diesen vorbildlichen Worten des verehrten Propheten folgt auch Mohammed Ben Mokhtar, ein Franzose algerischer Herkunft, der in Leila Marouanes aufwühlendem Roman der Ich-Erzähler ist.

Mokhtar ist zwar schon vierzig Jahre alt und verdient als erfolgreicher Banker astronomisch viel Geld, doch er bewohnt noch immer mit seinem jüngeren Bruder und seiner Mutter eine kleine enge Wohnung in einem tristen Pariser Banlieue. Zu all dem kommt noch hinzu, dass er in sexueller Hinsicht eine »Jungfrau« ist. Der einst streng religiöse Mokhtar verliert zusehends seinen Glauben und gerät in eine akute Sinnkrise. Mit einer Flucht aus der erstickenden Enge will er seine familiäre wie sexuelle Freiheit erlangen.

Vorsorge hat er schon im Vorfeld getroffen: Seinen Namen hat er heimlich in ein französisches »Basile Tocquard« ändern lassen, die krausen Haare mit Chemie geglättet, die dunkle Haut gebleicht. Nur so bekommt er seine Chance als Manager einer Bank und Käufer einer edlen Wohnung im noblen 16. Arrondissement von Paris. Er zieht von daheim weg, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die ihn unbedingt mit einem Mädchen aus dem algerischen Heimatdorf verheiraten will!

Fehlen ihm nur noch die sexuellen Eskapaden mit weißen Frauen, die »frei in Leib und Geist« sind. Dich die erotischen Abenteuer, die sich Mohkhtar/Basile in den schönsten Farben ausmalt, bleiben nur Phantasie. So sehr er sich auch nach »heißen Nächten« verzehrt und einen Haufen Geld in Restaurants ausgibt, stets lernt er nur junge Migrantenfrauen aus dem Maghreb kennen, die ihm lauter aufwühlende Geschichten erzählen, doch am Ende ihre heiß ersehnten Körper verweigern. Die Kette der sexuellen Demütigungen und die stärker werdenden Verwünschungsrufe der Mutter reißen nicht ab und lassen ihn in eine »Welt aus Feuer und aus Eis« hinab.

Man spürt trotz ihrer humorvollen und ironischen Sprache, dass sich eine Menge unterschwellige Wut in Leila Marouane angestaut hat. Eine Wut, die zwanzig Jahre Leben im Pariser Exil mit sich gebracht haben. So verwundert es nicht, dass die aus Algerien geflohene Autorin mit ihrem bislang vierten Roman eine provokante Abrechnung vorlegt.

Sie rechnet mit der sexuellen Doppelmoral der Muslime ab, die von Verboten und Traditionen geprägt ist. Sie hinterfragt die dominante Rolle der muslimischen Mutter, die den Kindern mit ihrer übertriebenen Fürsorge ein selbst bestimmtes Leben verweigert. Und sie hält der französischen Mehrheitsgesellschaft einen beschämenden Spiegel vor Augen: Denn die stolze Parole von »Freiheit und Gleichheit« erweist sich angesichts der realen gesellschaftlichen Diskriminierung insbesondere maghrebinischer Einwanderer im nur scheinbar egalitären Frankreich als leere Worthülse! Bleibt nur noch zu sagen, dass der Buchtitel eine Kaufprovokation des französischen Verlages ist.

– Nevfel Cumart

Leila Marouane: Das Sexleben eines Islamisten in Paris. Roman. Verlag Edition Nautilius, 2010, 220 Seiten.

 


Ariel Magnus: »Ein Chinese auf dem Fahrrad«

Allein im Chinatown von Buenos Aires

Ein furioser Roman über eine Entführung mit Folgen!

Der argentinische Autor Ariel Magnus weiß genau, dass der Anfang eines Romans sich nicht wie die Einführung einer Diplomarbeit in ein sprachwissenschaftliches Thema lesen darf. Deswegen beglückt er die Leser seines Romans »Ein Chinese auf dem Fahrrad« mit dem furiosen Auftakt einer Entführung.

Das unglückliche Opfer ist der 25-jährige Computerfreak Ramiro, der als Zeuge im Prozess gegen den Chinesen Li aussagen soll. Li soll der mysteriöse Brandstifter sein, der »El Fosforito« (das Streichhölzchen) genannt wird, ein gutes Dutzend Möbelgeschäfte in Brand gesteckt haben soll und nach seinen Untaten immer auf einem Fahrrad flüchtet. Eben jener Li schnappt sich den nichts ahnenden Ramiro auf der Toilette des Gerichts und entführt ihn in das Chinatown von Buenos Aires. Was folgt, ist, gelinde gesagt, ein »Kulturschock«, denn die Welt der Chinesen in seiner Heimatstadt war Ramiro bislang völlig fremd. Nun findet er sich in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Belgrano wieder, umgeben von lauter Chinesen, die er nicht versteht.

Das »Unglück« von Ramiro mildert sich nach dem ersten »Kulturschock« in der chinesischen Parallelwelt, was nicht zuletzt auf die Begegnung mit der hübschen, klugen und sexuell sehr erfinderischen Näherin Yintai zurückzuführen ist. Sie »eröffnet« ihm auch die chinesische Welt, denn sie spricht spanisch, was Ramiro nur zufällig erfährt. Ebenso wie die Tatsache, dass sein Entführer Li gar kein Fahrrad fahren kann!

Neben der erotischen »Befreiung« genießt Ramiro auch die räumliche, denn die Chinesen schleppen ihn bald auf ihren Streifzügen überall hin mit, in ihre Minimärkte, Lokale, Bordelle und auch Karaoke-Bars. Er lernt den mit Filmambitionen gesegneten Japaner Lito und dessen chinesischen Kumpel Chen kennen, mit denen er unbeschwerte Stunden vor der Glotze sitzt und – natürlich chinesische – Martial-Arts-Filme anschaut.

Als die beiden eines Tages erdolcht in der Wohnung aufgefunden werden, Li und die anderen von einer jüdischen Verschwörungstheorie reden und einen Plan gegen die Juden ausarbeiten, an dem auch Ramiro mitwirken soll, wird die Sache turbulenter als sie eh schon ist.

Ariel Magnus beginnt nicht nur furios, er hält das Tempo den gesamten Roman durch. Gekonnt spielt er mit den kulturellen Klischees, beherrscht die schwierige Kunst der kurzweiligen Dialoge, sprüht förmlich vor Sprachwitz und bitterbösen Pointen, bei denen so manches Mal das Lachen im Halse stecken bleibt.

Sein Debüt ist ein mitreißender »Pageturner«, der ohne die Trickkiste der trivialen Unterhaltung auskommt. Und mit Ramiro hat Ariel Magnus eine äußerst sympathische und liebenswürdige Figur geschaffen, deren Erlebnissen (nicht nur erotischer Art), Beobachtungen, Mutmaßungen und »Lebensweisheiten« man gerne länger als »nur« 250 Seiten folgen möchte. Ein Philosoph über wirtschaftliche Entwicklungen globalen Ausmaßes ist dieser Schalk Ramiro auch, seine Analysen sind bestechend. Durch Autoren wie Magnus können wir uns auf die Buchmesse mit Argentinien als Gastland freuen. Vielleicht beschert sie uns weitere Bücher von diesem Kaliber.

– Nevfel Cumart

Ariel Magnus: Ein Chinese auf dem Fahrrad. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 252 Seiten.

 


Sinan Antoon: »Irakische Rhapsodie«

Feuer auf die Buchstaben

Ein verstörender Roman über den Irak zu Zeiten Saddam Husseins

Der »Erste Golfkrieg« von 1980 bis 1988 war eine der blutigsten Auseinandersetzungen zwischen zwei Ländern in den letzten 40 Jahren. Dieser Krieg zwischen Iran und Irak kostete weit über einer Million Menschen das Leben und doch drang er kaum in den Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit. Mit diesem Krieg hat Sinan Antoons Roman nicht direkt etwas zu tun, wohl aber mit seinen Auswirkungen und den Zuständen im Irak während dieser Jahre.

Antoons Hauptfigur ist der Anglistik-Student Furat, der als Ich-Erzähler fungiert und gleich zum Auftakt des Romans an der Uni inhaftiert wird. Hier im Gefängnis bekommt er von einem Mitinsassen namens Achmad Papier zugesteckt. Furat zögert zunächst, bevor er sich dazu entschließt, über sein Leben während der Kriegszeit, seine Sehnsüchte und Erinnerungen der vergangenen Jahre und auch über die Zustände im Gefängnis zu schreiben. Dabei nimmt er die Allmacht der Baath-Partei Saddam Husseins, die strikten Verordnungen und Reglementierungen des Lebens durch die Partei genauso aufs Korn wie die permanente Überwachung und die Absurdität des Personenkults um den »Größten Führer aller Zeiten«.

Das wären mit wenigen Sätzen Inhalt und Rahmenhandlung des schmalen Romans. Aber Antoon macht es sich und den Lesern im Aufbau seines Romans nicht so leicht. Er schafft eine Struktur, die verschiedene Erzählebenen erlaubt, indem er am Anfang und am Ende des Romans fiktive Dokumente anführt, interne Schreiben der »Direktion für Staatssicherheit«. Die mit dem Vermerk »streng vertraulich« versehenen Dokumente beschäftigen sich mit einer handschriftlichen Aufzeichnung eines Gefängnisinsassen, deren »Durchsicht« und »Klärung« veranlaßt wird. So gelingt Antoon der literarische Trick der Rückblende. Der zweite Trick ist sprachlich subtiler und zielt auf Wortspielereien und Bedeutungsverschiebungen hin, die durch leicht abgewandelte Schreibweisen des arabischen Alphabets erfolgen und zu solchen Neuschöpfungen wie das »demordkratisch gepfählte Scharlament« führen.

Antoon hat eine poetische Ader. Immerhin wurde seine Übersetzung von Mahmoud Darwishs Gedichten im Jahre 2004 für den »PEN Translation Prize« nominiert. Diese poetische Schönheit mancher Textpassagen steht im Kontrast zu der drastisch derben Ausdrucksweise, die der Ich-Erzähler in seiner Not im Gefängnis benutzt. Die geschickte Komposition des Textes und das Verschwimmen zwischen Realität und Phantasie machen den schmalen Band zu einer verstörenden Lektüre. Zwar verzichtet Antoon bis auf eine kurze Vergewaltigungsszene auf jegliche Brutalität, aber er beschwört sehr eindringlich die psychische Belastung des irakischen Volkes. Kein Buch für einen gemütlichen Kaminabend, sondern eines, das die Leser noch eine ganze Weile verfolgt. Und das ist mehr als die meisten Bücher auf dem Markt schaffen.

– Nevfel Cumart

Sinan Antoon: Irakische Rhapsodie. Lenos Verlag Basel, 2010. 133 Seiten.

 


Aatish Taseer: »Terra Islamica«

Die Tyrannei der Belanglosigkeiten

Auf der Suche nach der islamischen Identität

Das Thema »Islam« ist immer gut für hitzige Diskussionen ebenso wie für Ressentiments und Vorurteile. Minarettverbot, Kopftuch, Burka und die gern verteufelte Scharia, das islamische Recht, sind nur einige der Schlagworte. Die vielen Publikationen über Fundamentalismus, Terrorismus, unterdrückte Frauen und so weiter und so fort verstärken die vorhandenen Klischees eher. Da stechen die wenigen Bücher ins Auge, die lesenswert und informativ sind. Aatish Taseers »Terra Islamica« gehört zu diesen nennens- und empfehlenswerten Büchern.

Als unehelicher Sohn eines pakistanischen, sprich muslimischen Vaters und einer indischen Mutter, einer Sikh, fühlt sich der mittlerweile britische Staatsbürger und Journalist Aatish Taseer dem Islam in diffuser Weise zugezogen. Er begibt sich auf die »islamische Reise« und auf die Suche nach den Wurzeln des Islams, nach den Lebensansichten gläubiger Muslime und auch auf die Suche nach seinem Vater, einem einflussreichen Politiker und Unternehmer in Pakistan. Diese Reise führt ihn über die Türkei, über Syrien, Saudi-Arabien und Iran schließlich nach Lahore im Norden Pakistans, wo er seinem Vater begegnet.

Ausgangspunkt der ungewöhnlichen Reise, im geographischen wie im ideellen Sinne, ist die Stadt Leeds in England. Dort führt der in London lebende Taseer nach den Anschlägen auf die Londoner U-Bahn in 2005 viele Interviews und verfaßt einen Artikel über die fundamentalistischen, gewaltbereiten Söhne muslimisch-pakistanischer Einwanderer, aus denen sich die Terroristen rekrutierten. Eine ihn überraschende Reaktion gibt den ersten Impuls zur Reise. Sein pakistanischer Vater hat diesen Artikel gelesen und kritisiert den Sohn daraufhin scharf als einen Verräter und wirft ihm vor, »gehässige antimuslimische Propaganda« zu verbreiten und keine Kenntnisse des »pakistanischen Ethos« zu besitzen.

Die insgesamt acht Monate dauernde Reise mit den vielen Begegnungen und auch gelegentlich unangenehmen Erlebnissen lässt sich nicht in wenige Sätze zusammenfassen. Hier sei nur soviel gesagt: Aatish Taseers Beobachtungen und Gespräche, gepaart mit dem Hintergrundwissen, das er sich als Journalist angeeignet hat, ergeben eine gute Mischung, um die einzelnen Stationen seiner Reise gut zu beschreiben.

Was er auf einigen wenigen Seiten ausführt, beispielsweise über das Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Islam in der Türkei, ist von bemerkenswerter Prägnanz: Es sei das Grundübel des »agressiven Säkularismus« der modernen Republik Türkei und ihrer Vereinnahmung der religiösen Angelegenheiten, die zum Erstarken des Islams und der islamischen Identität führe. Dass er dort fundamentalistisch gesinnten Muslimen begegnet, die im Brustton der Überzeugung darlegen, »dass der Islam ein ideelles System darstellt, mächtig genug, das gesamte politische und gesellschaftliche System des Westens in die Schranken zu weisen«, verwundert da wenig.

Eine intensive Zeit verbringt Taseer im Iran und diese Passagen gehören zu den eindringlichsten des Buches, zumal es selbst ins Visier des Staatsschutzes gerät und das Land Hals über Kopf verlassen muss. Die Verformung der iranischen Gesellschaft nach der Revolution von 1979, die tiefe Kluft zwischen den herrschenden Klerikern und den Menschen auf der Straße, die unter dem Joch der pedantischen religiösen Regeln und Verhaltensvorschriften stöhnen, lassen den Beobachter zu einem Fazit kommen: Die Menschen im Iran haben unter einer despotischen Tyrannei der Belanglosigkeiten zu leiden, die die Macht der Herrschenden zementieren soll.

Taseer erzählt in zwei Strängen: Zum einen die Reisereportage, zum anderen die Geschichte seiner Familie und darin die kurze Liebesbeziehung seines Vaters mit seiner Mutter. Man kann daher Taseers Buch als einen persönlichen, mit informativen Anteilen angereicherten Reisebericht lesen oder als den Bericht einer Suche nach den väterlichen Wurzeln und dem Versuch einer Vater-Sohn-Beziehung. Doch das alleine wird der Tragweite des Buches nicht gerecht.

»Terra Islamica« kann summa summarum auch als eine analytische Feststellung gelesen werden. Auf eine Kurzformel gebracht, kann sie so lauten: Die islamische Welt ist hochkomplex, vielschichtig in ihren Ausformungen hinsichtlich Gesellschaft und Kultur und sie läßt sich nicht mit einigen wenigen Schlagworten erklären. Diesen Aspekt zu vermitteln, ist eine der wichtigen Vorzüge des Buches.

– Nevfel Cumart

Aatish Taseer: Terra Islamica. Auf der Suche nach der Welt meines Vaters. C. H. Beck Verlag, München, 2010. 365 Seiten.

 


Mariam Kühsel-Hussaini: »Der Gott im Reisfeld«

Sehnsüchtige Erinnerung

Mariam Kühsel-Hussainis anrührende Afghanistan-Hommage

Keine Frage: Afghanistan ist immer noch ein kriegszerrütteltes Land, in dem sich die wenigsten an Zeiten des Friedens erinnern können. Ein zum großen Teil unwirtliches Land in dem mehr tödliche Minen liegen als irgendwo sonst auf der Welt. Ein von Leid geplagtes Land, in dem die Kommunisten putschten, in dem die Taliban ihr despotisches Regime ausübten, in dem heute al-Qaida neues Territorium absteckt, Warlords, Provinzgouverneure und auch die Regierung um ihren Anteil an der Macht kämpfen.

Und doch ist Afghanistan auch ein Land, dass heute noch Menschen bezaubern und sogar begeistern kann. Und sei es nur im sehnsuchtsvollen Rückblick auf eine vergangene Epoche, so wie es Mariam Kühsel-Hussaini mit ihrem Roman-Debüt ihren Lesern vermittelt. Kühsel-Hussaini, 1987 in Kabul geboren, ist die Enkelin des Kalligraphen Sayed Da’ud Hussaini, dessen Stammbaum bis auf den Propheten Muhammed zurückzuführen ist.

Dieser Großmeister der Kalligraphiekunst steht mit seiner Familie in der ersten Hälfte des Buches im Mittelpunkt des Romans, dessen Kapitel mit Gedichtzitaten aus der Feder des Sohnes Rafat überschrieben sind. Es ist insbesondere dieser Sohn, der gemeinsam mit dem hoch verehrten Vater dem Berliner Kunsthistoriker Jakob Benta das Leben, Denken und Fühlen im afghanischen Orient näher bringt. Benta ist auf der Suche nach Spuren eines verstorbenen Freundes nach Afghanistan gereist und bei der Familie des Kalligraphen als Gast aufgenommen worden. Sein Befremden über diese so fremde Welt weicht im Laufe Erlebnisse und tiefsinnigen Gespräche über die Künste der Faszination über „das leidenschaftliche Vermögen und den poetischen Besitz der entgegengesetzten Welt“.

Der Untergang des Landes und mit ihm der Zerfall der Kalligraphenfamilie wird 1978 durch den Putsch der Kommunisten eingeleitet, die den Präsidenten Muhammed Da’ud Khan ermorden und das Land in Angst und Schrecken versetzen. Wer von der Familie und dem Verwandtenkreis nicht „das Glück eines natürlichen Todes“ erfährt, sucht sein Heil vor dem blutigen Terror in der Flucht. An einem „Tag ohne Trauergesänge“ flieht auch der Sohn Rafat, ein angesehner Dichter und Sekretär des afghanischen Schriftstellerverbandes, mit seiner Frau und den Kindern – und landet nach vielen Umwegen schließlich im kalten süddeutschen Neuffen.

Mariam Kühsel-Hussaini gibt aus unterschiedlichen Erzählperspektiven und mit einer zauberhaften, mit vielen orientalisch-poetischen Bildern angereicherten Sprache einen Einblick in die Lebenswelt der Afghanen ab den 1950er Jahren. Und wer gelesen hat, was der Kalligraph Sayed Da’ud und sein Dichtersohn Rafat über die Kraft der Buchstaben, über Stolz und Scham und auch über die Liebe zur Dichtkunst“ erzählen, kann annährend ermessen, wie es im Herzen der Afghanen aussieht. Es gibt ein Afghanistan jenseits der schaurigen Schlagzeilen über Gräueltaten im „brüchigen Land“ des Krieges. Und ein Afghanistan, an den nicht wenige Menschen mit Sehnsucht zurückdenken. Mariam Kühsel-Hussaini bringt uns dieses Afghanistan näher, das in den Herzen ihrer Familienangehörigen lebt. Selten hat jemand mit so wenigen Worten und so poetischer Dichte die tiefen Wunden beschrieben, die das Leben im Exil einem Menschen zufügen kann.

– Nevfel Cumart

Mariam Kühsel-Hussaini: Der Gott im Reisfeld. Berlin University Press, 2010, 315 Seiten.

 


Orhan Pamuk: »Das stille Haus«

Es rumort fürchterlich im Haus

Orhan Pamuks Frühwerk glänzt durch literarische Reife und psychologisches Einfühlungsvermögen

Es gab eine Zeit, da war es sehr still um den späteren Nobelpreisträger Orhan Pamuk: Mit 23 Jahren faßt er den Entschluß, Schriftsteller zu werden und widmet sich fortan ganz dem Schreiben. Von der Mutter finanziell unterstützt, zieht er sich in das abgeschiedene Ferienhauses der Familie auf einer kleinen Insel vor Istanbul zurück und schreibt jede freie Minute. Für sein erstes, über 800 Seiten starkes Manuskript »Cevdet Bey und seine Söhne« erhält er sogar eine Auszeichnung, doch er findet keinen Verleger. Pamuk schreibt acht Jahre lang unbeirrt weiter, Jahr um Jahr ohne öffentlichen Widerhall und ohne Publikation.

Keineswegs still war es um Orhan Pamuk herum Ende der 1970er Jahre. Da stand sein Heimatland am Rande eines Bürgerkriegs. Angst und Agonie herrschten überall, sämtliche Ostprovinzen des Landes standen unter Kriegsrecht. Politische Splittergruppen kämpften gegeneinander: Nationalisten, Faschisten, Tradionalisten, Sozialisten, Kommunisten – alle Gruppierungen, die das politische Spektrum für eine Gesellschaft auf der Suche nach Orientierung bereithielt, waren auf den Straßen. Die Zahl der Toten überstieg tagtäglich das Dutzend. Bis am 12. September 1980 das Militär mit einem blutigen Putsch eingriff und »für Ruhe sorgte«. Diese schlimme Zeit kurz vor dem dritten Putsch in der Geschichte der türkischen Republik ist auch die Zeit der Handlung von Pamuks Frühwerk »Das stille Haus«.

Dieses alte, dem Verfall geweihte Haus liegt inmitten von Neubauten am Ufer des Marmarameeres, mit dem Auto eine knappe Stunde von Istanbul entfernt. Bewohnt wird es von der 9o-jährigen traditionsbewußten Großmutter Fatma, die ihre Marotten und leider auch Giftigkeiten an ihrem zwergwüchsigen Diener Recep ausläßt, der ihr voller Hingabe dient. Einmal im Jahr kommt Leben in das stille Haus, wenn die drei Enkelkinder im Sommer Istanbul fliehen und Großmutter Fatma besuchen, die sie ehrfürchtig siezen.

Die drei haben früh ihre Eltern verloren und hängen unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben nach. Der älteste von ihnen ist Faruk, ein Geschichtsdozent, der über die Trennung von seiner Frau nicht hinwegkommt und sich dem Alkohol hingibt. Sein jüngerer Bruder Metin besucht noch das Gymnasium, wohnt bei seiner Tante, erteilt Kindern reicher Familien Nachhilfe, träumt aber von einem neuen Leben in den USA. Die Schwester Nilgün hingegen träumt von einer Revolution in ihrer Heimat, hängt dem Sozialismus nach und tröstet sich mit den Versen von Turgenjew über den lethargischen Alltag hinweg.

Über und in dem alten Haus schwebt der ruhelose Geist des Großvaters Selahattin, einem Arzt und Freigeist, der nicht in seine Zeit paßte. Weil er sich politisch betätigte und sich vehement gegen den Islam und einzig für das Wissen aussprach, blieb ihm nichts anderes übrig, als in das selbst auferlegte Exil im kleinen Küstenort zu gehen. Hier widmete er sich einem gigantischen Projekt der Aufklärung: einer 49-bändigen Enzyklopädie über sämtliche rationale Wissenschaften. Selahattin scheiterte auf ganzer Ebene: Als Arzt, Wissenschaftler und auch als Ehemann der streng religiösen Fatma, weswegen er sexuelle Ablenkung bei der Dienstbotin und Trost im Alkohol suchte. Das »Resultat« dieser Eskapaden war ein früher Tod und zwei uneheliche Söhne, denen wir auch begegnen.

Das Schicksal von Selahattin und auch die Geschichte um die Eltern der drei Kinder erfahren wir aus Rückblenden und Monologen, denn Pamuk hat für seinen Roman keine Hauptperson und auch keinen Erzähler auserkoren. Statt dessen läßt er jedes Kapitel aus der Perspektive einer anderen Person in der Ich-Form erzählen. Viele andere Autoren wären sicher an dieser Last gescheitert, die sie den Figuren aufbürden. Pamuk aber nicht. Er dringt geschickt und überzeugend in seine Figuren ein, findet für jede einzelne eine eigene Sprache, einen charakteristischen Duktus und läßt uns mit großer psychologischer Sensibilität teilhaben an ihren Wünschen, Frustrationen und Sehnsüchten.

Dabei verschwimmen oft die Grenzen zwischen der Außen- und Innenwelt, weil Pamuk trickreich Dialoge mit Monologen, Rückblenden mit aktueller Handlung vermischt. Man vermag nicht zu sagen, bei welcher Person dies am beeindruckendsten geschieht, so raffiniert verflechtet Pamuk die literarischen Mittel miteinander. Allein schon die Kapitel aus der Perspektive der herrischen, dem Realitätsverlust entgegen hinkenden Großmutter sind ein literarischer Hochgenuß.

Pamuk hat schon zu Anbeginn seines literarischen Schaffens einen Roman vorgelegt, der mit einer verblüffenden Altersweisheit und Reife versehen ist. Und er hat damals schon sein zentrales Thema gefunden: die brüchige Suche nach Identität zwischen Ost und West. Eine manchmal schmerzliche Suche in einer Zeit des Übergangs, in der die Nachwirkungen des osmanischen Erbes mit der radikalen Verwestlichung nach Atatürk zusammenprallen.

Wer noch daran zweifelt, ob Pamuk den Nobelpreis in 2006 verdient hat, sollte ruhig »Das stille Haus« lesen: Der Mann hat schon mit 31 Jahren einen (sogar seinen zweiten!) Roman abgeschlossen, nach dem andere Autoren womöglich bis ins hohe Lebensalter streben.

– Nevfel Cumart

Orhan Pamuk: Das stille Haus. Hanser Verlag München, 2009. 366 Seiten.

 


Volker Mauersberger: »Kalte Wut. Der Fall Rinsche«

Mord mit einem Bügeleisen

Ein packender Roman über einen realen Mordfall in der Nachkriegszeit

Manchmal gibt es Themen, die einen das ganze Leben lang verfolgen, zu denen die Gedanken ständig zurückkehren. So erging es auch Volker Mauersberger. Der promovierte Journalist arbeitete lange Zeit als Auslandskorrespondent für Die Zeit, Die Woche und später auch für die ARD. Er bereiste dabei die ganze Welt, doch stets kehrten seine Gedanken zurück an einen kleinen Ort in Westfalen: Gevelsberg, am Rande des Ruhrgebiets zwischen Hagen und Wuppertal gelegen, war die Heimatstadt des Journalisten und – als dieser gerade zehn Jahre alt war – der Tatort eines spektakulären Mordfalls.

Damals, im September des Jahres 1949, erschlug die 38-jährige Ellen Rinsche ihren Mann Josef mit einem Bügeleisen und wurde dafür im jungen Nachkriegsdeutschland als Symbol der Verdorbenheit stigmatisiert und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, ohne dass sich irgendjemand um die Hintergründe der Tat kümmerte. Genau die interessierten aber Mauersberger. Jahrelang »geisterte« in seinem Kopf die Frage herum: Wie konnte es so weit kommen, dass eine bis dahin unauffällige Frau aus bürgerlichem Hause ihren Mann erschlägt, ihn zerstückelt und seine Leichenteile mit dem Kinderwagen und der Bahn in eine andere Stadt bringt?

Nachdem Mauersberger in den beruflichen Ruhestand trat, nahm er sich die Zeit, endlich dieser Frage nachzugehen. Und er hatte Glück: Alle Ermittlungs-, Polizei- und Gerichtsakten zu diesem Fall aus der deutschen »Trümmerzeit« waren noch im Stadtarchiv von Gevelsberg vorhanden.

Mit akribischer Genauigkeit nutzte Mauersberger diese Akten als Quelle, nahm noch die Verhörprotokolle und die Zeugenaussagen hinzu und reicherte das Ganze mit eigenem Einfühlungsvermögen an. Mit dieser Mischung zeichnet er in seinem ungewöhnlichen Buch »Kalte Wut« den langsamen Verlauf der Eskalation hin zur menschlichen Tragödie nach. Ihm ist der Versuch literarisch gut geglückt, 60 Jahre nach dem Mord in die innere Gefühlswelt und Psyche der Ellen Rinsche vorzudringen, die damals in der Presse als völlig kalt und skrupellos dargestellt wurde, und die speziellen zeitgeschichtlichen Lebensumstände nach dem Krieg aufzuzeigen.

Was Mauersberger, der zuvor mit Sachbüchern auf sich aufmerksam gemacht hat, in seinem »Roman über einen Mordfall« schreibt, wird kaum jemanden kalt lassen. Einerseits der Mord nicht: Den Ehemann zu erschlagen, ihm Kopf und Gliedmaßen abzuschneiden, diese in Tüten, Decken und Taschen zu verpacken und in Hausruinen und Toiletten zu deponieren, ist wahrlich grausig. Andererseits die Hetze der Presse, die in der Frau einzig die Bestie und Gattenmörderin sah, und die Ignoranz, fairer ausgedrückt, die Unsicherheit des Gerichts vier Jahre nach der nationalsozialistischen Herrschaft.

Man braucht kein Jurist zu sein, um zu wissen, dass heute ein anderes Urteil gesprochen, dass mildernde Umstände und Notwehr berücksichtigt würden. Und schließlich erschüttert auch das Schicksal der Ellen Rinsche die Leser. Man wird ihre Tat niemals gutheißen können. Doch man kann mit Mauersbergers Buch etwas von der grenzenlosen Einsamkeit, Isolation und Hilflosigkeit dieser Frau nachempfinden. Sie war nicht nur der Gewalt ihres jähzornigen Mannes ausgesetzt, sondern auch den Konventionen und Fesseln der Gesellschaft, die eine Scheidung unmöglich machten. Nach Jahren der Misshandlungen, Vergewaltigungen und der verzweifelten Ausweglosigkeit sah sie keine andere »Lösung« für sich und ihren kleinen Sohn.

Als sie die schreckliche Tat beging, wusste Ellen Rinsche nicht, dass kurz zuvor die Todesstrafe abgeschafft war. So suchte sie den Tod im Limburger Zuchthaus selbst. Ein tragisches, ein beklemmendes Frauenschicksal und ein Stoff, der darauf wartet, als Sittengemälde der deutschen Nachkriegsgesellschaft verfilmt zu werden. Mauersberger arbeitet bereits an einem Drehbuch.

– Nevfel Cumart

Volker Mauersberger: Kalte Wut. Der Fall Rinsche. Emons Verlag, Köln, 2009. 223 Seiten.

 


Mahmud Doulatabadi: »Der Colonel«

Die Last eines Jahrhunderts

Mahmud Doulatabadi rechnet nicht nur mit dem iranischen Regime ab

Wer bei der iranischen Zensurbehörde in Teheran arbeitet, hat zumeist keinen schwierigen Job. Denn was gesagt werden darf, ist klar umrissen, die Tabuthemen sind gut abgesteckt und im Zweifelsfall steht das despotische Regime mit Drohung, Haft und Folter hinter einem. Nach vielen Jahren des geistigen Terrors und der Unterdrückung, haben viele iranische Literaten die Grenzen des Erlaubten verinnerlicht, um der Zensur zu entgehen. So genügen manchmal einige wenige Kürzungen und Umformulierungen, damit ein Buch erscheinen kann.

Ganz anders sieht es mit Mahmud Doulatabadis Roman »Der Colonel« aus. Er ist ein literarisches Pulverfaß! Ein Roman, der so gut wie kein Tabuthema auslässt, eine schonungslose Generalabrechnung mit dem herrschenden Regime, aber nicht nur mit dem. Auch dessen Vorgänger und die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Machtcliquen bekommen die (literarischen) Leviten gelesen. Da ist es mit zwei, drei Kürzungen nicht getan. Kein Wunder, dass das Buch nie in Iran erscheinen wird. Dass »Der Colonel« als Welt-Erstveröffentlichung in einer kongenialen Übersetzung und einem sehr aufschlussreichen Nachwort von Bahman Nirumand in Deutsch erschien, ist dem Zürcher Unionsverlag zu verdanken, dessen Hausautor Doulatabadi schon seit Jahren ist.

In einer düsteren regnerischen Nacht klopft es an die Tür des aus der iranischen Armee ausgeschlossenen Colonels. Zwei Geheimpolizisten führen ihn ab zur Staatsanwaltschaft, wo ihm mitgeteilt wird, dass eine seiner Töchter getötet worden sei. Er soll, besser gesagt, darf sie selber begraben, doch die ganze Angelegenheit muss bis zum Morgengrauen erledigt sein. Die folgenden Stunden, in denen der Colonel mit einer beim verhassten Schwiegersohn geliehenen Schaufel durch die nächtliche Stadt »geistert« und mit Mühen die ungewaschene Leiche seiner Tochter beerdigt, bilden den Zeitrahmen und die Handlung des Romans. Doch zugleich wird darin die Geschichte Irans und seiner Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten kritisch reflektiert, fast schon seziert.

Der 69-jährige Doulatabadi weiß, worüber er schreibt. Er gilt zwar als der bekannteste zeitgenössische Autor Irans. Doch machte er auch seine einschlägigen Erfahrungen in den 1970er Jahren, als er während des Schah-Regimes als politischer Häftling für zwei Jahre inhaftiert war. Psychoterror und Folter sind ihm nicht fremd. Und dennoch blieb der Professor für Literatur an der Teheraner Universität in seinem Land, dessen Entwicklung und Schicksal aus nächster Nähe und mit emotionaler Aufwühlung er beobachtet. Die Arbeit an diesem Buch begann Doulatabadi schon vor 25 Jahren. Doch erst im letzten Jahr, nach vielen Überarbeitungen und Phasen des Ruhenlassens, hielt er das Manuskript für reif genug für eine Veröffentlichung – vergebens.

In einem trockenen Aufsatz über die gesellschaftliche Entwicklung in Iran nach der Revolution von 1979 würden die nüchternen Begriffe »Traditionsbrüche«, »Wertekonflikte« und »Fragmentierung der Gesellschaft« mit Sicherheit auftauchen. Wenn ein literarischer Meister der Worte wie Doulatabadi an die Sache geht, ergeben sich daraus Figuren, die mit ihrem Schicksal und ihrer Tragik, mit ihren politischen Überzeugungen diese alptraumhaften Umbrüche in der iranischen Gesellschaft widerspiegeln.

Der Colonel selbst steht für die patriotische Offiziersclique der Schah-Armee, ist aber ein unter der Last der Geschichte längst gebrochener Mann, der sich nicht einmal davor scheut, öffentlich seine eigenen Kinder zu denunzieren. Die 14-jährige Tochter Parwaneh, eine Sympathisantin der Volksmudschaheddin, wird wegen Agitation hingerichtet. Mohamed Taghi, der zweitälteste Sohn, fällt während des Aufstandes der Volksfedadschin, deren Mitglied er ist.

Der jüngste Sohn Masud ist ein Anhänger von Khomeini und zieht freiwillig in den iranisch-irakischen Krieg. Nach seinem Tod wird er als Märtyrer gefeiert. Die ältere Tochter Farzaeh ist mit Ghorbani, einem brutalen Anhänger des Regimes, verheiratet, der sie drangsaliert und ihrer Familie nur Leid bringt. Der älteste Sohn Amir, ein kommunistischer Linksintellektueller, lebt seit einiger Zeit im Keller des Hauses, ein verängstigtes Niemand, zerbrochen von der Folter und der familieninternen Tragödie, musste er doch mit ansehen, wie der Colonel-Vater seine Frau erdolcht, weil sie oft mit anderen Männern bis in die Nacht ausging und betrunken nach Hause kam.

Der Leser hat das Gefühl, einem finsteren, surrealen Schauspiel über Gewalt, Wahnsinn und Tod beizuwohnen, dessen Schrecken von Seite zu Seite mehr zunimmt. Der häufige, oft abrupte Wechsel von Erzählzeiten, Sprechern und Perspektiven ist zwar ein nicht immer leicht zu erfassender Erzählstrom, spiegelt aber die zunehmenden Wahnvorstellungen und Halluzinationen des Colonels wider. Erst gegen Ende des Buches erkennt der Leser das Gesamtbild der Tragödie in seiner vollen Tragweite.

Doulatabadi hat ein ungemein eindringliches, von erschütternder Intensität und düsteren Bildern geprägtes Buch vorgelegt, das nicht nur mit seinem Thema, sondern auch mit seiner literarischen Qualität sicher zu den wichtigsten Neuerscheinungen dieses Jahres zählt.

– Nevfel Cumart

Mahmud Doulatabadi: Der Colonel. Unionsverlag Zürich, 2009. 223 Seiten.

 


Mohammed Hanif: »Eine Kiste explodierender Mangos«

Mehr als die üblichen Verdächtigen

Mohammed Hanifs bitterböse Real-Satire über den pakistanischen Diktator Zia ul-Haq

Der Großmeister John Le Carré ist nicht nur für seine sarkastischen Agententhriller, sondern auch für sein britisches understatement bekannt. Wenn er ein Buch als „geistreich, elegant und herrlich anarchisch“ rühmt, so muss man die Ohren spitzen! Und in der Tat: „Eine Kiste explodierender Mangos“ zählt zu den besten Büchern dieses Frühjahres. Zur kleinen Sensation wird das Buch, weil es nicht aus der Feder eines Altmeisters stammt. Der pakistanische Journalist Mohammed Hanif schrieb dieses beeindruckende Debüt, das ihm den Commonwealth Writers’ Prize bescherte.

Hanif hat sich einem mysteriösen Vorfall in der jungen pakistanischen Geschichte gewidmet: dem Abgang des Präsidenten Zia ul-Haq, der elf Jahre lang das Land drangsalierte. Wobei „Abgang“ nicht ganz zutreffend ist, es müsste „Absturz“ heißen. Denn am 17. August 1988 stürzte in Pakistan ein Flugzeug ab, in dem sich Zia ul-Haq, ein Dutzend seiner Top-Generäle sowie der us-amerikanische Botschafter befanden. Bis heute ist dieses Ereignis ungeklärt. War es ein Unfall? Ein Attentat? Steckten die „üblichen Verdächtigen“ dahinter, also Armee und Geheimdienst? Oder vielleicht die CIA? Oder war es doch die Kiste mit den reifen Mangos, in dem angeblich ein Nervengas versteckt war? Die Verschwörungstheorien geistern bis heute herum. Hanif hat daraus eine temporeiche politische Satire gemacht, die durch ihre raffinierte Dramaturgie, die Liebe zum Detail und ihren grotesken Humor besticht.

Aus zwei Perspektiven erzählt uns Hanif seine Geschichte: Einerseits folgen wir dem Ich-Erzähler Ali Shigri, einem Kadetten der pakistanischen Luftwaffe, der mit den Verhörmethoden und Kerkern des Geheimdienstes unliebsame Bekanntschaft macht. Andererseits erleben wir den paranoiden Präsidenten Zia, der aus Angst vor einem Anschlag seine Residenz nicht mehr verlässt. Hanif verflechtet die beiden Erzählstränge mit alternierenden Szenen dermaßen geschickt miteinander, dass man sich dem Sog der Erzählung kaum entziehen kann. Slapstick-Elemente wechseln sich mit grotesken Momenten genauso ab wie mit verblüffenden Wendungen und Passagen, in denen einem das Lachen im Hals stecken bleibt.

Hanif, ein ehemaliger Kampfpilot der pakistanischen Luftwaffe, belässt es nicht bei den realen Verschwörungstheorien, er „dichtet“ noch einige skurrile Varianten hinzu. Diese reichen von einem „privaten“ Rachefeldzug Ali Shigris über die Verwünschung einer zur Steinigung verurteilten blinden Frau bis hin zu gierigen Bandwürmern, die sich im Leibe des Diktators ausbreiten. Der Mann hat zweifellos Phantasie, wobei ihm die Geschicke seines Landes die Arbeit erleichtern, denn die Ereignisse der vergangenen drei Jahrzehnte in Pakistan sind grotesker als ein Romanautor sie überhaupt sich ausdenken könnte.

Für Hanif gäbe es noch viel zu schreiben. Die Putsch-Ära des machthungrigen Präsidenten-Generals Pervez Musharraf bietet genug Stoff für ein halbes Dutzend Romane. Die Frage ist nur: Wird Hanif, der derzeit als BBC-Reporter in Karachi lebt und arbeitet, lange genug im Land bleiben dürfen? Denn seine bitterböse Real-Satire wäre den Machthabern Grund genug für eine Ausweisung. Mindestens.

– Nevfel Cumart

Mohammed Hanif: Eine Kiste explodierender Mangos. A1 Verlag München, 2009. 384 Seiten.

 


Helen Garner: »Das Zimmer«

Danach kommt der Tod

Helen Garners ergreifender Roman über Tod und Freundschaft

Literatur aus Australien findet nicht häufig den Weg in die Regale deutscher Buchhandlungen. Umso erfreulicher, dass Helen Garners schmaler Roman »Das Zimmer« dazugehört. Mehr noch: Dieser Band ist ein kleiner Glücksfall im literarischen Sommer des Jahres. Bislang ist das der einzige Titel von Helen Garner auf dem deutschen Buchmarkt. Doch das dürfte sich nach »Das Zimmer« sicher bald ändern. Zu wünschen wäre es, denn die 1942 geborene Garner hat viel zu bieten. Sie gehört zu den bedeutendsten Autorinnen Australiens. Für ihre Sachbücher und Romane, die teilweise von Jane Campion verfilmt wurden (»Zwei gute Freundinnen«), wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet.

»Das Zimmer« ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Buch. Da ist zum einen das Thema zu nennen: Krebs und Tod gehören nicht gerade zu den gewünschten »Mainstream-Themen«. Eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela, ein verwaister Zauberlehrling oder aber eine schnodderige Lifestyle-Biographie sind da eher geeignet, zum Publikumsrenner zu avancieren. Zum anderen haben wir es mit ungewöhnlichen Figuren zu tun: Wann hat man schon einen Roman gelesen, deren einzige Protagonistinnen Frauen weit über sechzig sind?

Anders gesagt: Helen Garner ist eine mutige Autorin, was Thema und Helden ihres Romans betrifft. Und eine äußerst geschickte zugleich: Denn was sie auf den 174 Seiten bietet, hätte bei einer zweitklassigen Autorin ein Wälzer von 500 Seiten mit Tragik, Trauer und Leid werden können. Nicht so bei Garner: Kein Wort ist zuviel, klar und schnörkellos kommt die Geschichte daher und doch fehlt der Blick für das Detail nicht, schimmert ein liebevoller Erzählton durch, entwickelt sich eine psychologische Tiefe, die fesselt und beeindruckt.

Die Geschichte ist so einfach wie tragisch: Die in Melbourne lebende 64-jährige Hauptfigur Helen nimmt ihre krebskranke Freundin Nikola bei sich auf. Nach diversen Operationen und Chemotherapien haben die Ärzte in Sydney Nikola förmlich abgeschrieben, ihr Körper ist voller Metastasen. Hier in der Stadt will Nikola sich einer alternativen Heilungsmethode mit »Vitamin-C-Kuren« und anderen obskuren Mitteln unterziehen. Helen begleitet ihre Freundin zu diesen Behandlungen am »Theodore Institute«, zu der auch eine »Ozontherapie« gehört.

Aber so einfach lassen sich die Krebszellen nicht »aus dem Körper herausspülen«, wie die Sprechstundenhilfe der nach Hoffnung suchenden Nikola suggeriert. Ständige Schwächeanfälle, Schweißausbrüche in den Nächten und starke Schmerzen am ganzen Köper tyrannisieren Nikola – und Helen, die immer aufgebrachter am Sinn der Behandlungsmethode zweifelt und ihrer Freundin wenigstens den unerträglichen Schmerz nehmen will: Mit guter alter Schulmedizin und starken Schmerzmitteln.

Doch Nikola sträubt sich bis zu letzt dagegen, Morphiumtabletten zu nehmen. Der Grund liegt für sie auf der Hand: »Weil das die letzte Stufe vor dem Tod ist.« Der naht unausweichlich, das ist auch Helen klar, doch wie lässt sich das in Worte fassen, was die geliebte Freundin nicht sehen kann und will. Welche körperlichen wie emotionalen Strapazen die Pflege der todkranken Freundin mit sich bringen, dass neben Trauer und Ohnmacht auch Wut in das Haus dringen wird, all das hat Helen nicht vorhersehen können.

»Das Zimmer« ist natürlich ein Roman über den Tod, keine Frage. Aber es ist auch ein Buch über die Ohnmacht der Helfenden, die aus Sorge um das Leben des geliebten Menschen in Wut umschlagen kann. Doch mehr als das ist »Das Zimmer« eine bewegende Geschichte über wahrhaftige Freundschaft, die über den Tod, die Ohnmacht und die Wut hinaus reicht!

– Nevfel Cumart

Helen Garner: Das Zimmer. Roman. Berlin Verlag Berlin, 2009. 174 Seiten.

 


Navid Kermani: »Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime«

Eine ruhige Stimme in der Integrationsdebatte

Navid Kermanis Streitschrift über Muslime in Deutschland

Der in Köln lebende iranische Schriftsteller Navid Kermani erlebte einen »Popularitätsschub«, über den er sich sicher gefreut hätte, wenn denn die Umstände nicht so unangenehm gewesen wären. Was war geschehen? Der hessische Ministerpräsident Koch wollte den Kulturpreis seines Bundeslandes in diesem Jahr an Protagonisten des interreligiösen Dialogs vergeben und wählte (bzw. ließ wählen) den Mainzer Kardinal Lehmann, den Ex-Präsidenten der evangelischen Kirche in Hessen, Steinacker, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, Salomon Korn, und eben Kermani als »Vertreter« der Muslime.

Nach der öffentlichen Bekanntgabe dieser Entscheidung erfuhr Kermani wenig später aus der Zeitung, dass ihm diese Auszeichnung wieder aberkannt worden war. Warum? Weil die Vertreter der beiden christlichen Konfessionen es ablehnten, einen Preis gemeinsam mit Kermani entgegenzunehmen. Lehmann und Steinacker störten sich an einem essayistischen Text Kermanis, in dem er die christliche Kreuzestheologie aus islamischer Perspektive kritisch bewertet hat. Es gab kaum ein namhaftes Medium, das nicht über diese Kehrtwende berichtet hätte.

Diese Farce hat Navid Kermani sicher nicht verdient. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Mitglied der von der Bundesregierung ernannten Deutschen Islamkonferenz und hat mit seinen Sachbüchern den christlich-islamischen Dialog bereichert. Keine Frage, Kermani ist ein überaus kluger Kopf und ein scharfsinniger Beobachter der deutschen Zustände. Er ist zudem ein profunder Islamwissenschaftler, der zu praxisnahen Analysen fähig ist.

Jetzt kommt noch das i-Tüpfelchen: Kermani, der für sein akademisches und literarisches Werk mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde, kann schreiben, kann herrlich präzise und unaufgeregt formulieren. Das macht sein Buch »Wer ist wir?« neben dem Erkenntnisgewinn zu einer sehr angenehmen Lektüre inmitten all der pseudo-wissenschaftlichen Bücher zum Thema »Islam in Deutschland«.

Kermani räumt mit so manchem in der deutschen Gesellschaft etablierten Klischeebild zum Islam auf. Für ihn ist eines der Grundprobleme im Umgang mit dem Islam, dass die Muslime und ihre Identität auf ein einzelnes Kriterium wie die Religionszugehörigkeit reduziert werden. Gegen diese »Identitätsfalle« schreibt Kermani beharrlich an.

Dabei belässt er es nicht bei Beobachtung und Analyse, sondern bringt auch viel Autobiographisches ein, um zu belegen, dass sich jede Persönlichkeit aus vielen unterschiedlichen und veränderlichen Identitäten zusammensetzt. So macht er deutlich, dass er Muslim, aber auch Schriftsteller erotischer Literatur, Vater zweier Töchter, Journalist, Fußballfan des 1. FC Köln, forschender Islamwissenschaftler und vieles andere mehr ist.

Zu den weiteren Themen seiner »Streitschrift« gehört auch die Entstehung von Parallelgesellschaften, die in seinen Augen nachweislich soziale Gründe haben. Einzig den Islam für solche Phänomene wie Zwangsheirat und Ehrenmord verantwortlich zu machen, greife viel zu kurz und blende andere wichtige Faktoren aus. Diesen Reflex beobachtet Kermani in der gesamten Integrationsdebatte. Nicht erst am Ende der neun Kapitel kommt er zu dem Schluß, dass die Integrationsdebatte zu sehr auf die Religion verengt wird.

Kermani ist zwar orientalischer Herkunft, doch – um ein Klischee zu bemühen – er »fabuliert« nicht, weder in positive noch in negative Richtung. Anders gesagt: Er betreibt keine blauäugige Schönfärberei und auch keine Ressentiments schürende Panikmache. Vielmehr liefert er eine ausgewogene Mischung an klugen und sachlich fundierten Einsichten und versprüht trotz aller Kritik an die deutsche wie muslimische Adresse eine Prise Optimismus. Inmitten der sehr emotional und meist unsachlich geführten Integrationsdebatte hierzulande ist das wahrhaftig ein nicht zu unterschätzender Beitrag. »Wer ist wir?« ist das Buch eines Autors mit ruhiger Stimme, dem man viele Leser und rege Diskussionen wünscht.

– Nevfel Cumart

Navid Kermani: Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime. C. H. Beck Verlag München, 2009. 173 S.

 


Andrea Busfield: »Mauertänzer«

Im Schatten der Taliban geboren

Andrea Busfields anrührend unterhaltsamer Afghanistan-Roman

Afghanistan. Ein kriegszerrütteltes Land, in dem sich die wenigsten an Zeiten des Friedens erinnern können. Ein unwirtliches Land, in dem nach Berechungen der UNO mehr Minen liegen als irgendwo sonst auf der Welt. Ein von Leid geplagtes Land, in das die Sowjets einmarschierten, in dem die Taliban ihr despotisches Regime ausübten, in dem heute al-Qaida neues Territorium absteckt, Warlords, Clans, Provinzgouverneure und auch die Regierung um ihren Anteil an der Macht kämpfen.

Und doch ist Afghanistan auch ein Land, dass Menschen bezaubern und sogar begeistern kann. Die britische Journalistin Andrea Busfield gehört zu diesen Menschen. Sie bereiste 2001 erstmals Afghanistan, verliebte sich »mit Haut und Haaren« in das Land und lebte danach für einige Jahre als Redakteurin in Kabul. Auch wenn das Leben in »vielfältiger Weise hart und gefährlich ist«, so Busfield, ist für sie Afghanistan »doch ein Land des Lachens und des Lichts, des Mitgefühl und des Lebensmut«. Es waren diese Liebe und Begeisterung, die vielen Begegnung mit Afghanen, die die 39-jährige dazu inspirierten, ihr Debüt »Mauertänzer« zu schreiben.

Der Held ihres Romans ist der elfjährige Fawad, der »im Schatten der Talban« in Kabul geboren wurde und dessen Familie grausam unter dem Regime gelitten hat: Sein Vater und sein Bruder starben durch die Taliban, seine ältere Schwester wurde verschleppt, das Haus der Familie niedergebrannt. Doch das alles liegt einige Jahre zurück. Wir schreiben das Jahr 2005 und Fawad lebt mehr recht als schlecht mit seiner Mutter bei der Tante. Zusammen mit seinen Freunden Jahid, Jamilla und Spandi nimmt er die Ausländer auf der belebten Chicken Street aus und trägt so zum erbärmlichen Einkommen der in fremden Haushalten putzenden Mutter bei.

Fawads Leben ändert sich, als seine Mutter eine Anstellung bei der Engländerin Georgie bekommt, die für eine Hilfsorganisation arbeitet. Sie wohnt gemeinsam mit dem Journalisten James und der Ingenieurin May in einem Haus. Fawads Weltbild gerät gehörig ins Wanken. Denn das Leben und Gebaren dieser drei Fremden ist so ganz anders. James frönt reichlich dem Alkohol und läuft zumeist halbnackt mit einer Zigarette im Mund durch das Haus, May ist lesbisch und weint einer Frauenliebe nach, was für einen afghanischen Jungen schwer nachvollziehbar ist.

Der erwachte Argwohn gegenüber diesen Fremden weicht aber bald einer Sympathie. Eine innige Liebe entflammt für Georgie, die er wie seine Mutter »beschützen« will. Denn Georgie ist in Gefahr: Sie liebt den reichen Paschtunen Haji Khan, der als Anführer eines Clans in viele Geschäfte verwickelt und stets von einem Dutzend Leibwächter umgeben ist. Eine Liebesbeziehung, die kaum Aussichten auf ein glückliches Ende zu haben scheint.

Andrea Busfield gibt aus der Perspektive ihres jungen Protagonisten in einer vordergründig kindlich-naiven, aber gleichwohl fast philosophisch anmutenden Sprache einen Einblick in die Lebenswelt der Afghanen. Und wer gelesen hat, was dieser kleine Bengel über Stolz und Scham, über Leben und Tod, über Ausländer und Aufbauhilfe und auch »über die Liebe der Afghanen zu der Dichtkunst« erzählt, kann annährend ermessen, wie es im Herzen der Afghanen aussieht. Es gibt ein Afghanistan jenseits der Schlagzeilen über getötete Soldaten und Gräueltaten der Taliban. Der Roman »Mauertänzer« bringt dieses Afghanistan näher.

– Nevfel Cumart

Andrea Busfield: Mauertänzer. Atrium Verlag Zürich, 2009, 334 Seiten.

 


Frankfurter Buchmesse 2008: Gastland Türkei

Auf dem Weg in die Postmoderne

Ein kleiner Einblick in die türkische Literaturlandschaft

Ein Blick zurück in die 1960er Jahre, fördert ein gravierendes Missverhältnis zutage: Während allein von Franz Kafka in den 1960er Jahren zwölf Bücher in türkischer Übersetzung erschienen, betrug die gesamte Ausbeute übersetzter Titel aus dem Türkischen in Deutschland zwölf Titel. In den 1970er Jahren stieg die Zahl der Übersetzungen aus dem Türkischen auf 31 Bücher an.

Zumeist waren es Übersetzungen von Turkologen für eigene Belange und erschienen in Fachverlagen. Dieses zahlenmäßige Ungleichgewicht im literarischen »Austausch« zwischen beiden Ländern ist immer noch frappierend. Während zweit- bis drittklassige Thriller aus den USA haufenweise übersetzt und verlegt werden, findet die türkische Literatur kaum den Weg in die deutschen Buchläden.

Hier ist nicht der Raum, um die Gründe hierfür eingehend zu erörtern. Manche sehen in Deutschland eine starke Undurchlässigkeit für Literatur aus dem Osten, die in Ländern wie England, Frankreich oder den Niederlanden aufgrund der Kolonialgeschichte weniger ausgeprägt ist.

Andere erkennen in Themen und Funktion der türkischen Literatur – genannt seien Identitätsstiftung, Politikersatz und Literatur als ideologische Waffe – einen anderen Hauptgrund. Wiederum andere weisen auf die deutsche Geringschätzung der Türkei und ihrer Kultur hin.

Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk brachte es in einem Interview polemisch auf den Punkt, warum er in Deutschland verhältnismäßig wenig rezipiert wurde, während er in anderen Ländern längst große Popularität genoss: »Wir Türken sind in Deutschland diejenigen, die im Frankfurter Hauptbahnhof den Boden wischen. Von solchen Leuten kauft man keine Bücher.«

Bleibt noch zu erwähnen, dass die auswärtige Kulturpolitik der Türkei, die in 1957 einen Vertrag über den kulturellen Austausch mit der Bundesrepublik abschloss, wenig dazu beigetragen hat, die Literatur im »nahen Ausland« Deutschland zu protegieren. Ein Blick in die schlampigen Broschüren des Kulturministeriums für die letzten Frankfurter Buchmessen spricht Bände.

Diese lieblosen und in brüchigem Deutsch verfassten Broschüren spiegeln jedoch nicht die Qualität wider, denn längst haben türkische Literaten und ihre Werke Eingang in die Weltliteratur gefunden. Der traumatische Einschnitt nach dem Militärputsch in 1980 scheint endgültig überwunden.

Die türkische Literatur hat in den letzten 20 Jahren eine enorme Entwicklung durchlaufen und bietet eine vielfältige Literaturszene, die derzeit von rund 1700 Verlagen getragen wird. Dank der Frankfurter Buchmesse, deren diesjähriges Gastland die Türkei ist, gibt es einen kleinen Boom an Übersetzungen türkischer Titel, die einen Einblick in diese Vielfalt rechts und links von Yaşar Kemal und Orhan Pamuk gewähren.

Eine der bemerkenswertesten Neuentdeckungen der letzten Jahre ist Hasan Ali Toptaş, der für seine fünf Bücher sechs Literaturpreise erhielt. Mit seinem Roman »Die Schattenlosen« sprengt er den Rahmen der beliebten »Dorfliteratur«, die von Autoren wie Fakir Baykurt geprägt wurde. Toptaş fällt der Verdienst zu, die Frage des Existenzialismus in das anatolische Dorf getragen zu haben.

In der türkischen Literaturszene (und den Buchläden) kommt man an Murathan Mungan nicht vorbei. Er ist ein »Multitalent«, der Dramen, Erzählungen und Romane vorgelegt hat und von Intellektuellen ebenso geliebt wird wie von der breiten Leserschicht. In »Tschador«, einem schmalen hochkomplexen Band, thematisiert Mungan Identitätsverlust und Fremdsein jenseits von nationalem Denken.

Ein Blick auf türkische Bestsellerlisten zeigt, dass neben den stets beliebten populärhistorischen Büchern über das Osmanische Reich und den Werken von nationalreligiösen Schriftstellern auch das relativ neue Genre der Krimis sich etabliert hat. Hierzulande konnten sich Esmahan Aykol mit ihrer Buchhändlerin Kati Hirschel und der »Grandseigneur des türkischen Krimis« Celil Oker mit seinem Privatdetektiv Remzi Ünal eine Leserschaft erobert.

Bemerkens- und entdeckungswert ist die Riege der Autorinnen jüngerer Generation, die in rasantem Tempo preisgekrönte Werke vorgelegt hat. Perihan Magden, Elif Shafak, Şebnem Işigüzel und Aslı Erdoğan zeichnen sich in ihren Werken durch ihr kosmopolitisches Denken und Schreiben aus. Sie setzen die Tradition der Internationalität fort, die mit Halide Edip Adıvar ihren Anfang nahm und sind der beste Beweis dafür, dass die türkische Literatur den Weg in die Postmoderne längst eingeschlagen hat.

– Nevfel Cumart

 


Oya Baydar: »Verlorene Worte«

Die Berge stehen in Flammen

Oya Baydars geschichtenpraller Roman über den Ost-West-Konflikt in der Türkei

Wer über das Werk der 1940 geborenen Oya Baydar recherchiert, sieht sich überrascht: In den meisten türkischsprachigen Anthologien wird sie als Autorin nicht erwähnt. Kaum nachvollziehbar, zumal sie für einige ihrer Romane mit angesehenen Literaturpreisen in der Türkei ausgezeichnet wurde. Wer sich mit Oya Baydars Biographie beschäftigt, wird als Grund für diese Ausgrenzung ihre dezidiert linke und sozialistische Gesinnung vermuten.

Bereits als Studentin wand sie sich der sozialistischen Bewegung zu, war Mitgründerin der »Sozialistischen Arbeiterpartei der Türkei«, wurde zwei Mal inhaftiert und musste nach dem Militärputsch 1980 als politische Asylantin ins deutsche Exil gehen, wo sie bis zu einer Amnestie 1992 in Frankfurt lebte. Heute engagiert sich die Alt-68erin in der »Türkischen Friedensinitiative«, einer NGO, die sich für einen Ausgleich mit den Kurden einsetzt. Und die sind es auch, die in ihrem Roman »Verlorene Worte« eine große Rolle spielen.

Im Mittelpunkt des Romans steht der Bestseller-Autor Ömer Eren, der unter einer Schreibblockade leidet. Der »Geburtshelfer der Worte« findet keine mehr, fühlt sich leer, hat sich von seiner Frau entfremdet und sucht immer öfter Trost im Alkohol. Eines Abends wird er Zeuge, wie am Busbahnhof in Ankara ein Querschläger eine junge schwangere Frau trifft.

Ömer hilft ihr und ihrem Freund, begleitet sie ins Krankenhaus und erfährt, dass das junge kurdische Paar auf der Flucht ist. Die schwangere Zelal flieht vor dem Ehrenmord ihres Clans, Mahmut vor der PKK, für die er als ehemaliger Kämpfer nun ein Abtrünniger ist. Kurz darauf macht sich Ömer per Bus auf in den tiefen Osten der Türkei, in die Heimat der beiden Kurden, um mehr über ihr Leben zu erfahren.

Zeitgleich bricht Ömers Ehefrau Elif, eine erfolgreiche Biochemikerin, auf nach Norwegen, um an einem Kongress teilzunehmen. Für sie ist diese Reise auch der Versuch, den »verlorenen« Sohn Deniz wiederzufinden, der sich als ein »Lebensdeserteur« in ein kleines Dorf zurückgezogen hat.

Deniz ist als Kriegsfotograf im Irak am Beruf und nach einem Bombenanschlag, bei dem seine norwegische Frau umkam, am Leben gescheitert. Aber auch in die norwegische Dorfidylle findet Gewalt ihren Weg, als Neonazis das Gasthaus in Brand stecken, in dem seine Mutter absteigt.

Mit einer geschickten Komposition verwebt Oya Baydar mehrere Erzählstränge miteinander, wechselt ständig die Erzählperspektive und nutzt den Konflikt in der zerbrochenen Familie, die Sprachlosigkeit und Spaltung, als Metapher für den seit langem schwelenden Ost-West-Konflikt in der Türkei. Dabei räumt sie dem Schicksal des drangsalierten kurdischen Volkes mit teilweise poetischer Anmut sehr viel Raum ein.

Zugegeben: Es hätten auch etwas weniger Konflikt und Drama gereicht und an manchen Stellen hätte etwas weniger Pathos in der Erzählsprache sicher die gleiche Wirkung erzielt. Aber dieses kleine Manko kann dem Roman lediglich ein wenig schaden, seine gesellschaftspolitische Brisanz, seine Eindringlichkeit und sein Appell gegen Gewalt kann es nicht mindern. Wenn alle derzeit angekündigten Übersetzungen aus der Türkei, dem Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, solch ein Kaliber haben, verspricht es ein aufregender Literaturherbst zu werden.

– Nevfel Cumart

Oya Baydar: Verlorene Worte. Roman. Claassen Verlag, 2008. 455 Seiten.

 


Hans Jansen: »Mohammed. Eine Biographie«

Die Demontage des Propheten Mohammed

Der Arabist Hans Jansen lässt kein gutes Haar an dem Propheten des Islam

Wer sich mit gläubigen Muslimen über den Stifter ihrer Religion unterhält, bekommt manchmal den Eindruck, als würde er alles andere im Islam in den Schatten stellen, so immens ist die Verehrung des Propheten Mohammed. Dabei steht nicht er im Mittelpunkt dieser Offenbarungsreligion, sondern der Koran, das eigentliche »Wunderwerk« im Islam, das heilige Buch der Muslime, das ihrer Überzeugung nach die Offenbarungen Gottes in arabischer Sprache enthält.

Der Prophet Mohammed war lediglich Sprachrohr für diese göttlichen Offenbarungen. Dennoch: Sein Leben gilt für gläubige Muslime als moralische Richtschnur in Fragen des Glaubens und der Frömmigkeit, seine vorbildlichen Taten und Aussprüche, die Hadithe, gelten als die zweitwichtigste Quelle im Islam, seine Verehrung hat mythische Dimensionen erreicht, nicht einmal sein Gesicht wird im sunnitischen Islam abgebildet. Welche Kränkungen und Tränen dänische Muhammed-Karikaturen vor diesem Hintergrund auslösen können, war unlängst zu sehen, von den Auswirkungen der gezielten Instrumentalisierung dieser Karikaturen durch islamische Fundamentalisten ganz abgesehen.

Wer sich allerdings mit Muhammed beschäftigen will, ist bisher auf einige alte Bücher angewiesen gewesen, denn bis auf zwei, drei kurze Zusammenfassungen ist in den letzten vier Jahrzehnten nichts Nennenswertes für interessierte Laien erschienen. Das hat sich in diesem Jahr gründlich geändert. Der in Leiden lehrende Ägypter Nasir Hamid Abu Zaid, der Bamberger Theologe Klaus Klausnitzer, der Göttinger Islamwissenschaftler Tilman Nagel und auch der niederländische Arabist Jansen haben in den letzten Wochen Bücher über den Propheten vorgelegt. Aus diesen Büchern ragt Jansens Muhammed-Biographie heraus, denn der Autor nimmt für sich in Anspruch, besonders säkular und aufklärerisch ans Werk zu gehen.

Der in Utrecht lehrende Jansen stellt zum Auftakt seines Buches fest, was Kennern bekannt sein und Laien verwundern dürfte: Dass über das Leben Mohammeds keine anderen schriftlichen Quellen außer den islamischen existieren. Hier ragt insbesondere die Prophetenbiographie des Chronisten Ibn Ishaq hervor, die im Jahre 750 n. Chr. im Irak geschrieben wurde.

Auf diese früheste und umfangsreichste Biographie, so Hans Jansen, fußen alle anderen Lebensgeschichten Mohammeds sowohl in der islamischen als auch in der westlichen Welt. Dieses Werk von Ibn Ishaq geht Jansen Passage für Passage durch und zeigt die mit heutigen wissenschaftlichen Mitteln nachweisbaren Ungereimtheiten und Unwarscheinlichkeiten in den geschilderten Ereignissen ebenso wie die chronologischen Widersprüche auf.

Aus diesem Manko der Glaubwürdigkeit und dem Fehlen von anderen zeitgenössischen Quellen außer der islamischen Tradition, schließt Jansen, dass alle anderen Details und Ereignisse in der Prophetenbiographie auch unwahr sein könnten, erfunden von Chronisten und übernommen von nachfolgenden Generation in blinder Nachahmung. Von hier aus ist der Weg nicht mehr weit bis zum nächsten Gedanken, die Existenz eines historischen Mohammed gänzlich in Frage zu stellen.

Hans Jansens Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes eine gepfefferte Antibiographie. Er demontiert das herkömmliche Mohammedbild und das macht er, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, mit einer sarkastischen Genugtuung. Dabei schreckt er vor drastischen Übertreibungen nicht zurück, etwa wenn er den Kampf Mohammeds gegen zwei jüdische Stämme in Medina mit dem Holocaust Hitlers vergleicht.

Mag sein, dass Jansens kompromisslose Demontage des überlieferten Prophetenbildes und seine drastische Sprache den jüngsten Entwicklungen im eigenen Lande geschuldet sind, überschattet vom Mord an den Filmemacher Theo van Gogh.

Mag auch sein, dass Jansen den islamischen Fundamentalisten den ideologischen Boden unter den Füßen entziehen will, da diese sich somit auf ein »falsches« Bild beziehen würden.

Aber dennoch bleiben einige Fragen offen und entlarven die teilweise sehr fragwürdige Methode in der Vorgehensweise: Warum hält Jansen eigentlich nur das für wahrscheinlich und wahr, was nach heutigen Maßstäben den Propheten in einem schlechten Licht, gar als brutalen und blutrünstigen Führer dastehen lässt, der nicht einmal vor Mordaufträgen zurückschreckt? Warum hat Jansen die wichtigste Quelle im Islam, den Koran, überhaupt nicht berücksichtigt?

Er weiß doch, dass der in rund 23 Jahren geoffenbarte Textkorpus nicht nur die Kernbotschaften des Islams in Glaubensfragen, sondern auch viele historische Informationen enthält. Und was haben dieser zynischer Spott und diese Häme in solch einem vom Ansatz her bemerkenswerten Buch zu suchen?

Dass Jansen kein gutes Haar lässt an den Propheten, ist für so manchen den Glauben respektierenden Muslim oder Nichtmuslim sicher bitter genug. Muss er dann noch all die Muslime, die eben an diesen Propheten und das Gute des von ihm überlieferten Bildes glauben, auch noch für dumm erklären?

– Nevfel Cumart

Hans Jansen: Mohammed. Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2008. 491 Seiten.

 


Alek Popov: »Die Hunde fliegen tief«

Von Heuschrecken und Underdogs

Alek Popovs grotesker Roman über Bulgaren in New York

Auch so kann man die Menschen einsortieren, zumindest die Bulgaren: in EBAL – »erfolgreiche Bulgaren außer Landes«, in BVIL – »bulgarische Versager im Lande«, und schließlich in DBÄ – die »diebischen bulgarischen Ärsche«. Das zumindest ist die Weltsicht des jungen Bulgaren Ned. Es liegt auf der Hand, dass Ned zu den EBAL gehört.

Er ist ein erfolgreicher Unternehmensberater, der in New York Karriere gemacht hat, zu dessen Alltag »verschwenderische Abendessen auf Kosten der Firma« ebenso gehören wie luxuriöse Hotels und Flüge erster Klasse. Denn Ned ist mit Firmenübernahmen dick im Geschäft. Dumm nur, dass sich sein Bruder Ango ankündigt, ein klassischer Fall von BVIL. Ango ist daheim in Bulgarien mit einem Kinderbuchverlag kläglich gescheitert, hat in der Green Card Lotterie eine Arbeitsgenehmigung für die USA gewonnen und macht sich auf den Weg nach New York.

Zwei Brüder, die nicht ungleicher sein könnten und eine Stadt, in der alles möglich ist – das ist die Ausgangslage, aus der der Bulgare Alek Popov einen rasanten und grotesken Roman entwickelt hat, der zu den Besten gehört, die in den letzten Wochen auf den deutschsprachigen Buchmarkt kamen.

Alek Popov, Jahrgang 1966 und mit allen stilistischen Wassern gewaschen, erzählt die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der beiden Brüder. Ango haftet das »Mantra der Verlierer« an, schließlich findet er einen Job als Hundeausführer im Central Park. Ned plant den weiteren Karriereschritt und zockt nebenbei mit seinem »Personal Wealth Manager« an der Börse.

Aus diesen beiden unterschiedlichen Perspektiven heraus lässt Popov die literarische Katastrophe anbahnen und streut dabei mit schlitzohrigem Witz Kritik an den kapitalistischen Westen ebenso wie an den postkommunistischen Osten ein. Ärger mit der Gewerkschaft, Hundeentführungen und Schutzgelderpressung bei Ango und eine verkorkste Firmenpräsentation mit anschließendem Absturz bei Ned treiben das Duo in absurde Abenteuer, zu denen auch gescheiterte Börsenspekulation auf fallende Tierfutterkurse, korrupte Polizisten und ein Vergiftungsanschlag auf New Yorks Hunde beitragen.

Nach einem furiosen Showdown, in dem Popov mit einem Feuerwerk absurder Ideen glänzt, tauschen die beiden ungleichen Brüder ihre Rollen: Der Versager als Held steigt auf zu New Yorks oberstem Tierschützer – und zum Millionär, der abgebrannte Yuppie als gescheiterte »Heuschrecke« wandert aus in die Wildnis Südamerikas.

Aber Vorsicht: Alek Popovs Roman nur als eine flott und geschickt geschriebene Variation der »Tellerwäscher-wird-zum-Millionär«-Geschichte zu lesen, würde ihm nicht gerecht werden. Unter der Oberfläche von Humor, Groteske und Surrealem lauern auch die Tiefen der Identitätssuche, Melancholie und insbesondere Heimatlosigkeit. Und das sind wahrlich keine trivialen Themen. Alek Popov meistert sie jedoch mit Bravour. Es bedarf keiner Doktorarbeit, um festzustellen: Wir werden von ihm noch hören!

– Nevfel Cumart

Alek Popov: Die Hunde fliegen tief. Roman. Residenz Verlag, 2008. 411 Seiten.

 


Matt Beynon Rees: »Der Verräter von Bethlehem«

Auf der Suche nach Gerechtigkeit

Matt Beynon Rees’ Krimi mit Schauplatz Palästina

Wer etwas von den Palästinensern und den palästinensischen Gebieten hört, denkt mit Sicherheit zunächst an Flüchtlingslager und Elend, an die Intifada und Hamas, an Anschläge und einen viel beschworenen Frieden, der in utopischer Ferne zu sein scheint. Aber bestimmt nicht an einen Kriminalroman!

Genau den hat sich Matt Beynon Rees vorgenommen: Den ersten Krimi, dessen palästinensischer Ermittler vor Ort agiert. Eine interessante Idee, die in der Kreation einer liebenswürdig Figur mündet, der die Welt der Kriminalliteratur von nun an bereichern wird: Omar Jussuf, seines Zeichens Geschichtslehrer an einer Mädchenschule der UNO, der trotz aller traumatischen Erlebnisse seines Volkes an humanistischen Idealen festhält und der den Jugendlichen genügend Verstand vermitteln will, damit sie nicht in blinde Wut gegen Israelis und dem fragwürdigen Märtyrerkult radikaler Palästinenser verfallen.

Omar Jussuf ist nicht prädestiniert dafür, ein Krimiheld zu sein: Er ist nicht nur ein belesener und besonnener Feingeist mit hehren Träumen, ihn plagen auch körperliche Gebrechen und selbst das Treppensteigen ist eine Zumutung für ihn. In seinen ersten Fall schlittert Omar Jussuf eher ungewollt hinein, denn es geht um seinen ehemaligen Schüler George Saba.

Der erst kürzlich aus Südamerika zurückgekehrte Christ soll ein Mitglied der Märtyrerbrigaden an die Israelis verraten haben: Der junge Abdel Rahman wurde im Schutze der Nacht hinterrücks erschossen. Aber wer hat Interesse an dem Tod des jungen Mannes? Waren es israelische Scharfschützen, die ihn mit Hilfe eines Kollaborateurs niedergestreckt haben? Und was hat George Saba für einen Nutzen von diesem Mord?

Als nur wenige Tage nach dem Tod von Abdel Rahman auch noch dessen junge Witwe Dima geschändet und ermordet und George Saba in einem Schauprozess ohne Beweise zum Tod verurteilt wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Jussuf bleiben nur wenige Tage bis zur Bestätigung des Urteils durch den Präsidenten um die Hintergründe der beiden Morde zu klären.

Rees leitete viele Jahre lang das Büro der New Yorker »Times« in Jerusalem und kennt die Verhältnisse vor Ort sehr gut. Geschickt mischt er in seinem Romandebüt die realen Fakten mit literarischen Elementen zu einem überzeugenden Krimi. Er hat einen überaus sympathischen Serienhelden geschaffen, bleibt dem klassischen »Who-done-it« fern und folgt auch nicht dem Muster des amerikanischen »hard-boiled«-Krimis.

Vielmehr benutzt Rees die Gattung des Kriminalromans, um auf literarisch hohem Niveau auch Gesellschafts- und Sozialkritik an Palästinensern ebenso wie Israelis zu üben. Dabei legt er eine akribische Beobachtungsgabe an den Tag. Ein Autor, den es zu entdecken gilt. Und ein Roman, der mehr über den Nahost-Konflikt erzählt als ein Sachbuch.

– Nevfel Cumart

Matt Beynon Rees: Der Verräter von Bethlehem. Roman. C. H. Beck Verlag, 2008. 327 Seiten.

 


Dietmar Herz: »Die Amerikaner im Krieg«

Viele Gefechte und ein Pyrrhus-Sieg

Dietmar Herz berichtet über den Irak-Krieg

»Wer die Hölle als das bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmen kann.« Dieses Zitat der Autorin und Kritikerin Susan Sonntag führt Dietmar Herz, Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt, gegen Ende seines Buches an.

Dieser Satz ist zum Teil auch Resümee seines Reiseberichts. Es ist eine ungewöhnlich Reise, ein »Abstieg in die Unterwelt«, über die Dietmar Herz in diesem schmalen Band mit rund 150 Seiten berichtet: »Eingebettet« in die 82. Airborne Division verbrachte Herz vier Wochen in Irak. Und was er berichtet, ist niederschmetternd.

Ein Blick zurück: Georg W. Bush und sein Außenminister Donald Rumsfeld boten der Öffentlichkeit Versatzstücke einer wenig durchdachten Zukunftsvision für den Nahen und Mittleren Osten, in dessen Mittelpunkt »Die Theorie des demokratischen Friedens« stand, und prophezeiten eine »Welle der Demokratisierung« in der Region.

Und wie sieht die Realität heute aus? Längst schon geht es nicht mehr um den von den USA propagierten Wiederaufbau oder um Demokratie, sondern darum, in diesem Wirrwarr von Kämpfen und Anschlägen mehr schlecht als recht Präsenz zu zeigen und darum, einen Zustand »der physischen Sicherheit« zu schaffen – für US-Soldaten und Iraker.

Herz´ Erkenntnis im Irak: Die gesamte Ideologie von Georg W. Bush und seinen Beratern »ist eine Verkennung der Realität«. Die Leidtragenden dieses Realitätsverlustes sind die Menschen in diesem kriegsgebeutelten Land: Einerseits die amerikanischen Soldaten, »Objekte der hilflosen Strategie der eigenen Regierung«, die zu Dutzenden fallen. Andererseits die Iraker, die vielen Aktiven an den Waffen in verschiedenen Gruppierungen ebenso wie die völlig Unbeteiligten, die zu Hunderten sterben.

Grundlage dieses Realitätsverlustes ist nach Herz´ Analyse die Konzeptlosigkeit der amerikanischen Führung, die diesen Krieg um jeden Preis führen wollte, auch mit Hilfe der Irreführung und der Lügen. Sie begann diesen Krieg mit »bemerkenswert wenig Wissen über die Gegner und die zu erwartende Situation der Nachkriegszeit«. Erst in den blutigen Kriegen, angesichts der vielen Kampfherde im Irak muss der Plural benutzt werden, begann man dieses Wissen in den letzten vier Jahren mit Blutzoll zu sammeln

Herz gelingt eine gute Mischung aus historischen und aktuellen Hintergrundinformationen und dem Bericht dessen, was er selbst vor Ort gesehen hat. Es liegt auf der Hand, dass Herz kein umfassendes Bild des gesamten Iraks und seiner vielen Kriegsschauplätze geben kann. Als »embedded journalist« in der amerikanischen Armee kann er nur aus diesem Umfeld und dem beigewohnten Aktionsradius berichten. Doch das genügt vollauf.

Wer solche Episoden liest wie über den kleinen militärischen Konvoi, mit dem zwei Ingenieure und ein Dutzend Soldaten unter Einsatz ihres Lebens ein geborstenes Abwasserrohr inspizieren, um es vielleicht irgendwann reparieren zu können, der kann sich ausmalen, wie es außerhalb der abgesicherten Armeecamps aussieht.

Herz´ Schlussfolgerung lässt keine Deutlichkeit vermissen: »Die amerikanische Strategie scheint mir in einer Sackgasse zu sein«, resümiert er. Anders gesagt: Auf lange Sicht sind die Amerikaner auf dem Weg der Niederlage, trotz der technischen Überlegenheit und der Siege in den Gefechten und Scharmützeln.

– Nevfel Cumart

Dietmar Herz: Die Amerikaner im Krieg. Bericht aus dem Irak im vierten Kriegsjahr. C. H. Beck Verlag, München 2007. 156 Seiten.

 


Sean Rowe: »Traumschiff«

Von alten Rechungen und kaputten Familienverhältnissen

Ein überzeugendes Krimidebüt mit überraschenden Wendungen

Keine Frage: Man kann sicher auf angenehmere Weise zum Schreiben finden als der Amerikaner Sean Rowe. Der geriet nach einer Party vor einen fahrenden Zug, überlebte wie durch ein Wunder und zog sich nach Monaten im Krankenhaus auf eine einsam gelegene Farm in North Caroline zurück. Dort schrieb er seinen Romandebüt »Traumschiff«, eine Geschichte, die wie eine Dampflok den Leser niederwalzt.

Der Ich-Erzähler ist Matt Shannon, ein Ex-FBI-Agenten, der den Krebstod seiner Frau nicht verkraftet hat. Sein Stiefbruder Jack Fontana, der drei Jahre im Knast saß, stiftet ihn zu einem großen Coup an: ein Überfall auf ein Kreuzfahrtschiff, auf dem Millionen von kolumbianischen Drogengeldern von Miami nach Kuba geschmuggelt werden sollen.

Der Überfall klappt, doch dann läuft alles aus dem Ruder und Matt hat mit seiner Begleiterin Julia die Drogenmafia am Hals. Rowe hat eine gekonnt komponierte Melange aus Loyalität und Kumpanei, der Gier nach Geld und dem perfekten Verbrechen, aus Verrat und Rache gemixt. Die Mischung, die aus einer Geschichte um eine Freundschaft zwischen Stiefbrüdern ensteht, die viel kriminelle Energie generiert.

Natürlich verwendet Rowe in seinem Krimidebüt viel und gerne das Bild einer verkommenen und gefährlichen Welt, in die ein desillusionierter und trinkender Ermittler letzten Endes eine Ordnung schaffen will. Doch Rowe gelingt diese Anleihe ohne sich darüber zu erheben oder sich lustig zu machen. Schreiben heißt für ihn, dahin zu gehen, wo es weh tut. Ohne zu vergessen, dass es am Ende eben doch nur eine Geschichte ist, die man erzählt.

Rowe treibt den Plot von einem Höhepunkt zum nächsten und lässt dabei reichlich Blut fließen. Sicher kein Buch für jedermann, aber Fans von Hard-boiled-Thrillern werden vollends auf ihre Kosten kommen, zumal Rowe ganz auf Sentimentalitäten verzichtet. Da läuft schon nichts schief.

Bleibt nur noch eine letzte Frage an die Verantwortlichen im Verlag: Was in Gottes Namen soll dieser Buchumschlag mit einem kleinen Mädchen im Bikini? Ist da vielleicht etwas schief gelaufen?

– Nevfel Cumart

Sean Rowe: Traumschiff. Roman. Mare Buchverlag, 2007. 235 Seiten.

 


Udo Ulfkotte: »Heiliger Krieg in Europa«

Der Untergang des Abendlandes

Udo Ulfkotte warnt vor einer islamischen Weltverschwörung

Wer Udo Ulfkottes Buch »Heiliger Krieg in Europa« aufschlägt, begegnet auf Seite vier einem Zitat von Oriana Fallaci, das hellhörig macht. Darin attestiert Fallaci: »Europa ist nicht mehr Europa, es ist Eurasien, eine Kolonie des Islam …« Erinnern wir uns: Es ist die selbe Fallaci, die nach den Anschlägen des 11. September der gesamten islamischen Welt den Krieg erklärte und behauptete, dass die Moscheen Europas »bis zum Überdruss von Terroristen oder solchen, die es werden wollen« wimmeln und dass »die Söhne Allahs sich wie Ratten vermehren«. Solch ein Zitat an so exponierter Stelle – kein glücklicher Griff, mag man denken. Doch wer das Buch bis zum Ende liest, kommt zu der Überzeugung, dass dieses Zitat dieser Autorin wohl mit Bedacht gewählt worden ist.

In seinem Buch widmet sich Ulfkotte »dem zentralen Geheimbund, der mit grenzenlosem Hass und einer langfristigen Strategie die europäische Kultur zu zerstören sucht: der Muslimbruderschaft«. Auf 300 Seiten hat Ulfkotte Material und Informationen über die Muslimbrüder und ihre Machenschaften zusammengetragen, um die »schleichende Islamisierung Europas« zu belegen. Als Quellen, wen er sie denn nennt, dienten ihm zumeist Internetseiten und Zeitungsmeldungen. Er zieht daraus teilweise einleuchtende, teilweise völlig abstruse Schlussfolgerungen, die letztendlich in einer Verschwörungstheorie münden.

Damit es keine Missverständnisse gibt: Der Verfasser dieser Rezension ist Islamwissenschaftler und hat sich in seiner Abschlussprüfung an der Uni der Muslimbruderschaft gewidmet. Diese wurde 1928 von dem Lehrer Hasan al-Banna in Oberägypten gegründet und gilt als die erste fundamentalistische Organisation in der islamischen Welt. Neben ihrem Gründer beeinflusste ihr Chefideologe Said Qutb, der 1966 hingerichtet wurde, insbesondere mit seinem Hauptwerk »Wegzeichen« (1964) nachfolgende Generationen von Fundamentalisten.

Zu Recht stellt der Politologe Bassam Tibi in seinem Vorwort fest, dass die Muslimbruderschaft heute »zu den Grundpfeilern des fundamentalistischen Islam« gehört. Der Wissenschaftler Tibi versteigt sich nicht in Spekulationen über deren Verbindung zu Al Qaida, Hamas und Taliban. Der Journalist und »Terrorismusexperte« Ulfkotte hingegen reiht diese Terrororganisationen und viele andere auch bedenkenlos in das Netzwerk der Muslimbrüder ein. Ein Netzwerk das nur ein Ziel kenne: »die Vernichtung der freiheitlichen westlichen Demokratien und die Wiedererrichtung des Kalifats, einer Religionsdiktatur«.

Man darf den Einfluss der Muslimbruderschaft – auch sicherheitspolitisch – bestimmt nicht unterschätzen. Aber Ulfkottes Behauptung, »die Mehrheit der europäischen Muslime« stünde längst unter ihrem Einfluss, scheint übertrieben. Es bleibt nicht bei Übertreibungen, das Buch enthält auch viele sachliche Fehler. Falsch ist zu behaupten, der Islam »fordere notwendig« und »aus religiösen Gründen« die Genitalverstümmelung von Mädchen.

Ebenso falsch die Behauptung, dass »muslimische Zweit- und Drittfrauen« in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland beitragsfrei versichert werden. Ein Anruf bei der AOK hätte genügt! Falsch ist die Behauptung, dass im sunnitischen Islam jeder Muslim eine Fatwa, ein Rechtsgutachten, erstellen kann. Auch die These »Der Islam ist und bleibt Einheit von Politik und Religion« ist nicht haltbar. Verfolgt Ulfkotte denn nicht den Diskurs in islamischen Gesellschaften? Die Liste der Fehler ließe sich noch mühelos fortsetzen.

Udo Ulfkote betont in seiner Einleitung, er kritisiere nicht den Islam, sondern den islamischen Fundamentalismus. Doch widerspricht er sich schon dort, wenn er dem Islam Charaktereigenschaften wie »weiterreichende politische Herrschaftsansprüche« zuspricht, die allenfalls auf die radikale, fundamentalistische Strömung in dieser Religion zutreffen. Und nach der Lektüre des Buches wird deutlich, dass diese anfangs betonte Differenzierung lediglich ein Lippenbekenntnis ist. Denn Ulkotte teilt nach allen Seiten aus, man weiß manchmal gar nicht, ob er den Islam, die Fundamentalisten, die Muslimbrüder oder al-Qaida meint.

Es bedarf keiner Marktforschung um festzustellen, dass Ulfkottes Buch sich sehr gut verkauft. Er bedient genügend Ängste und schürt diese. Und er beweist nach »Krieg in unseren Städten« auch mit diesem Buch, dass er ein geschicktes Händchen für brisante Themen und die Stammtischrunde hat. Bleibt zum Abschluss nur noch zu erwähnen, dass Ulfkotte die Gründung einer »Partei gegen die Islamisierung Deutschlands« vorbereitet, um »Sonderrechte für die Muslime« und eine »Aufweichung der Gesetze zugunsten des Islams« zu verhindern.

– Nevfel Cumart

Udo Ulfkotte: Heiliger Krieg in Europa. Wie die radikale Muslimbruderschaft unsere Gesellschaft bedroht. Eichborn Verlag, Frankfurt, 2007. 303 Seiten.

 


Asfa-Wossen Asserate: »Ein Prinz aus dem Hause David«

Über das Leben im unfreiwilligen Exil

Asfa-Wossen Asserates Erinnerungen und seine Hommage auf Deutschland

»Wer das Exil nicht kennt, begreift nicht, wie grell es unsere Schmerzen färbt, und wie es Nacht und Gift in unsere Gedanken gießt«. Dieser Satz von Heinrich Heine sollte für Asfa-Wossen Asserate über Nacht zu einem denkwürdigen Zitat werden. Dabei sah es lange Zeit anders aus. Das Wort Exil kannte Asserate bis zu seinem 26. Lebensjahr allenfalls aus Büchern und von Klassikern wie Heine.

Als Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie und ältester Sohn des Vizekönigs von Eritrea erlebt Asserate eine glückliche Kindheit im Glanz des dreitausend Jahre alten äthiopischen Kaiserhauses. Er wächst auf in der Residenz seines Vaters, einem herrschaftlichen Anwesen auf den Bergen des Entoto, besucht als erster Äthiopier die Deutsche Schule in Addis Abeba und wird später zum Studium nach Deutschland geschickt.

Doch dann, im November 1974, als er dabei ist, in Frankfurt im Fach Äthiopistik zu promovieren, erhält sein Leben eine unerwartete Wende. Eine blutige Revolution unter der Führung des Offiziers Mengistu Haile Mariam findet in Äthiopien statt. Asserates Vater wird von den Revolutionären ermordet, seine Mutter und fünf seiner sechs Geschwister werden ins Gefängnis geworfen.

Aus dem geliebten Gastland wird ein unfreiwilliges Exil, aus dem Studenten als »politisch Verfolgter« wird ein Asylant, denn an eine Rückkehr nach Äthiopien ist nicht zu denken. Während der nächsten fünfzehn Jahre steckt er seine gesamte Energie in den Kampf um die Freilassung seiner Familie und die Befreiung seines Landes vom mörderischen Terror der kommunistischen Militärdiktatur unter Mengistu, die erst 1991 ein Ende fand.

Über diesen Kampf als Lebensaufgabe und noch einiges mehr hat Asfa-Wossen Asserate nun ein Buch geschrieben. Herausgekommen ist nicht nur ein sehr persönliches Buch, eine Erinnerung an den eigenen, ungewöhnlichen Werdegang, sondern auch eine Liebeserklärung an Deutschland und insbesondere Frankfurt am Main. Denn im Laufe der vier Jahrzehnte wurde ihm Deutschland zu einer Heimat, Äthiopien aber blieb sein Vaterland.

Einen zusätzlichen Reiz des Buches macht seine Betrachtung des deutschen Lebens aus. Als ehemals Fremder hat Asserate seinen ganz eigenen Blick auf die deutschen Eigenarten. Was er an den Deutschen mag, warum er sich manchmal über sie wundert und was ihn an den Deutschen stört, führt er im diplomatischen aber ehrlichen Ton aus.

Wer die Hoffnung hegt, eine Geschichte Äthiopiens lesen zu wollen, wird enttäuscht sein. Und wer meint, viel zu wenig über die negativen Aspekte dieser Zeit in Äthiopien zu erfahren, hat sicher recht: Über die Politik des Kaisers Haile Selassie und auch über die des eigenen Vaters, immerhin war er als Vorsitzender des Kaiserlichen Kronrats der zweitmächtigste Mann im Staat, erfährt man wenig.

Man erfährt kaum etwas über die Unterdrückung von Muslimen und anderen Glaubensgemeinschaften im Vielvölkerstaat, kaum etwas über das zentralistische Regime und dem Konservatismus, der ihm anhaftete. Nur: Asfa-Wossen Asserate hat nie diese Absicht gehabt, eine »historische Studie« über Äthiopien zu schreiben. Er erzählt in diesem Buch mit einem »subjektiven Blick« in erster Linie über sein Leben und das Schicksal seiner Familie. Und das wiederum macht er sehr eindrücklich

– Nevfel Cumart

Asfa-Wossen Asserate: Ein Prinz aus dem Hause David und warum er in Deutschland blieb. Scherz Verlag, Frankfurt am Main 2007. 384 Seiten.

 


Yasar Nuri Öztürk: »Der verfälschte Islam«

Der türkische Martin Luther des Islams

Der populäre Theologe Öztürk widerlegt die Islamisten

Wären die Forschungsergebnisse des Istanbuler Rechtsanwaltes, Theologie-Professors und Bestsellerautors Yasar Nuri Öztürk in Deutschland so bekannt wie in der Türkei, hätte es Mitte März das »Koran-Urteil« jener Frankfurter Richterin wohl kaum gegeben. Diese hatte das Schlagen der Ehefrau als in der islamischen Welt durchaus üblich und als durch den Koran gestützt erklärt.

Aber wenn Koran-Exegese so einfach wäre, brauchte es den islamischen Theologen Öztürk nicht. Denn der belehrt uns in seinem bei Grupello erschienenen Buch »Der verfälschte Islam« eines Besseren: Islam ist das, was im Koran steht und nicht die arabische Tradition. Aber selbst eine Koran-Exegese, die sich eindimensional auf das scheinbar offensichtliche Koran-Wort beruft, ist problematisch: der Koran muß linguistisch und soziologisch differenziert betrachtet werden.

So ist Öztürks Anliegen in diesem Buch das Herausschälen des »wahren Islam« und das Identifizieren der erfundenen Bestandteile, die heutzutage (neben der traditionellen arabischen Lebensweise) für den Islam gehalten werden. In seinem für die deutsche Leserschaft bearbeiteten Werk erklärt der Autor 50 Begriffe wie zum Beispiel Wallfahrt, Gebet, Koranlesen, Heilige Nächte im Licht des Korans und stellt ihnen die erfundenen Neuerungen gegenüber.

Diese Neuerungen stellen für Öztürk eindeutig unerlaubte Hinzufügungen zur Religion dar und sind daher Häresie. Sicher, die genannten Stichwörter mögen besonders für praktizierende Muslime von tieferem Interesse sein. Doch auch (und gerade) der nichtmuslimische Leser wird bei vielen anderen Themen wie zum Beispiel »Wie Frauen ihrer Rechte beraubt wurden« oder »Die Scharia – was sie ist und was sie nicht ist« überzeugend aufgeklärt.

Folgen wir dem Autor nun zu zweien der vielen Höhepunkte seines Buches und beginnen wir mit dem Eingangsbeispiel und den Frauen, die anscheinend Schläge in Kauf zu nehmen haben: In Sure 4, 34 steht wörtlich: »Und diejenigen, deren Widersetzlichkeit ihr befürchtet – ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie.« Scheinbar eindeutig.

Jedoch: Das arabische Wort darb besitzt cirka zwanzig(!) verschiedene Bedeutungen, darunter die gewöhnlichste: »schlagen«, aber auch: »des Heims verweisen«. Hier ist also ganz klar eine übersetzerische Entscheidung zu treffen, zu der uns laut Öztürk in diesem Fall der Prophet selbst den Weg weist: Dieser schlug nämlich keineswegs seine der Untreue bezichtige Ehefrau Aischa, sondern schickte sie zu ihren Eltern, bis die Vorwürfe geklärt waren (in Sure 24 wird Aischa entlastet).

Als zweites Beispiel wollen wir die traditionelle islamische Aufteilung der Welt in »das Haus des Islams« und »das Haus des Krieges« betrachten. Öztürk definiert: Das »Haus des Islams« sei jede rechtsstaatliche Staatsform, und zwar unabhängig von ihrer Religion. Das »Haus des Krieges« bezeichne Gebiete, in denen keine Rechtsstaatlichkeit herrsche – was durchaus auch auf einige islamische Länder zuträfe. Zitat: »Zu behaupten, daß Saddam und die Saudis über ,Häuser des Islams’, die Regierungen Schwedens, Deutschlands und der Schweiz hingegen Regime von ,Häusern des Krieges’ seien, widerspricht der Wahrheit und dem Menschenverstand.« Wäre es anders, dürften Muslime in diesen Ländern (d. h. in Häusern des Krieges) ihre Religion nicht ausüben!

Wirklich kritikwürdig ist für den Rezensenten nur ein Aspekt: Öztürk sieht in der jüdischen und christlichen Religion eine Quelle des Aberglaubens. Dies stimmt natürlich nicht, denn Aberglaube ist ein Kennzeichen einer unerwachten Menschheit im Allgemeinen. Und wenn Öztürk ein paar Seiten weiter von der Verführungskraft des Teufels spricht, möge man sich vor Augen halten, daß er nicht nur ein brillanter Intellektueller ist sondern auch Orientale und ein Muslim, für den der Teufel als der große Gegenspieler einfach dazugehört.

Erfrischend ist Öztürks Ton, der einerseits streng sachlich ist, andererseits ohne diplomatische Floskeln auskommt: Er benennt Lüge, Erfindung und politische Instrumentalisierung mit genau diesen Worten.

Es wäre wünschenswert, wenn noch mehr Bücher von Öztürk ins Deutsche und andere europäische Sprachen übersetzt würden. Und vor allem dem »Verfälschten Islam« ist eine große Leserschaft zu wünschen, denn sein Autor, der in der deutschen Presse schon salopp als »Türken-Luther« bezeichnet wurde ist ein Hoffnungsträger für Orient und Okzident!

– Nevfel Cumart

Yasar Nuri Öztürk: Der verfälschte Islam. Grupello Verlag 2007. 191 Seiten.